Die Idee von Voluntourismus ist es, im Urlaub Erholung mit ehrenamtlicher Arbeit zu verbinden. Eine gute Idee? Das versucht unser Autor bei einem Biowinzer am Kaiserstuhl herauszufinden.
Immer tiefer sinke ich in den Kessel. Es ist kühl und nass da unten, Erinnerungen an eine missglückte Moorwanderung werden wach. Bald sind meine Beine bis zu den Knien verschwunden. Mein Puls pocht. Wie bin ich hier nur hineingeraten? Warum konnte ich nicht einfach Urlaub machen wie alle anderen, als stinknormaler Tourist?
Stattdessen habe ich mich für eine Art Weinwalz entschieden, eine Arbeitswanderschaft. Nur eben nicht für drei Jahre, wie bei Gesellen üblich, sondern für eine Handvoll Tage. Mein Ziel: ein Bioweingut im Kaiserstuhl, das sich auf Naturweine spezialisiert hat, komplett ohne Pestizide und sonstige Behandlungsmittel. Für ein paar Tage bin ich hier als Gastarbeiter einquartiert – Gast und Arbeiter. Mein Lohn: Kost, Logis und ein paar Gläschen „Charli“ und „Schlawiner Cuvée“, so haben sie ihre Weine getauft.
Die Weinwalz macht mich zum Voluntouristen – ein begrifflicher Verschnitt aus Volunteering, also Freiwilligenarbeit, und Tourist. Die Idee ist, das Angenehme mit dem Hilfreichen zu verbinden. Gutes tun und es sich gut gehen lassen. Kann das gut gehen?
„Ohne die Helfer würde sich der Hof nicht tragen“
Die Sonne ist längst hinter der lieblichen Hügellandschaft versunken, als ich den Winzerhof Linder, etwas oberhalb des Städtchens Endingen gelegen, erreiche. Ronald Linder, 46, und seine Partnerin Elena Bollin, 37, heißen mich am langen Holztisch ihrer Gemeinschaftsküche willkommen. Sie teilen sie mit Sohn Jano, 8, und Tochter Nela, 7, mit einer Freundin, die Kräuterführungen anbietet, deren zwei Kindern sowie, in wechselnder Zahl, mit Weinbau- und Waldorfschulpraktikanten – und mit Wwoofern, Gästen aus aller Welt. Ich zähle zu den Wwoofern: Auf den Winzerhof bin ich auf der Website von Wwoof Germany gestoßen. Das Akronym Wwoof steht für Worldwide Opportunities on Organic Farms. Das Netzwerk, dessen erster Knoten Anfang der Siebzigerjahre von der Londoner Sekretärin Sue Coppard per Zeitungsannonce geknüpft wurde, vermittelt inzwischen Hunderttausende ehrenamtlich Helfende an Biobauernhöfe in mehr als 130 Ländern.
„Diese Offenheit, diese Gemeinschaft ist schön“, sagt Elena mit Blick auf die vielen Küchengäste. „Für uns selbst. Und auch für unsere Kinder.“ Ronalds Blick ist etwas nüchterner: „Ohne die Helfer, die unbezahlt für uns arbeiten, würde sich der Hof nicht tragen.“ Aber, schiebt er hinterher: „Bei uns kann auch jeder was mitnehmen. Das ist ein Geben und Nehmen.“
Mein Schlaflager befindet sich in einem Wohnwagen hinterm Haus, mit WLAN, ohne WC. Nächtliche Toilettengänge zur Scheune, erklärt mir Elena, werden im Lichtkegel einer Taschenlampe und unter fauchendem Protest der ortsansässigen Schleiereule erfolgen. Gemeinsam mit Elena und Ronald leere ich die ersten Gläschen meines Weinwalz-Lohns. Ein Vorschuss, der auf die Bettschwere einzahlt. Gegen halb zehn verabschiede ich mich in die Wohnwagenkoje. Zwei Zahlen geben dem bevorstehenden Gastarbeitseinsatz Kontur. Frühstück: 6.30 Uhr. Dienstbeginn: 8 Uhr.
Am nächsten Morgen werde ich von Vogelkrallenklackern auf dem Wohnwagendach geweckt. Wohlig ausgeschlafen fühle ich mich, es ist auch bereits taghell. Blick aufs Handy. 7.38 Uhr – verschlafen! Starker Start. Mein Platz am Tisch in der Gemeinschaftsküche ist gedeckt, alles andere längst abgeräumt. Drei Honigbrote, eine Banane – um 7.58 Uhr ist das Blitzfrühstück beendet. Just in time.
Meine erste Aufgabe, erklärt Ronald, bestehe darin, mit ihm den Schafzaun abzubauen, der eines der Rebenfelder umgibt. Er verschwindet im Schuppen, kehrt mit zwei großen Astscheren und einer Motorsäge zurück. Die Zeichen stehen auf zünftiges Zaunmassaker. Doch sie trügen: Es ist das Equipment für Aufgabe zwei, die Böschungspflege. Ronald packt die Utensilien auf die Pritsche des Pick-ups. Ab in die Weinberge.
Fahrt ums entzäunte Areal. Ronald am Lenkrad, ich sammle Pfähle und Zaunrollen ein, hieve sie auf die Pritsche des Pick-ups und mich gleich hinterher. „Bocksprung, Respekt!“, lobt Ronald. „So ist noch keiner hier auf die Ladefläche gehüpft. Nicht mal unsere Teenager.“ Der Meister weiß, wie er seine Helferlein motiviert.
Die Schafe, die von Weinberg zu Weinberg wandern, sind Heidschnucken, erklärt Ronald. Doch Heide gibt’s hier oben keine, drum hat er sie Rebschnucken getauft. „Erst mähen sie die Weinberge, später verkaufen wir ihr Fleisch und ihre Wolle.“
Aufgabe zwei, die Böschungspflege, klingt gemütlicher. Der zweite Trugschluss. Ronald steigt mit der Motorsäge in den Hang über den Reben, und schon bald purzeln im Minutentakt Büsche und junge Bäume herunter, ich komme mit dem Zerlegen kaum hinterher. Entstehen sollen auf diese Weise sogenannte Kamine, Windschneisen, die für ein trockenes, weinfreundliches Mikroklima sorgen. „Die Natur kapieren und kopieren, sag ich immer“, sagt Ronald.
Er sagt es auf sehr passablem Hochdeutsch. Das ist deshalb einer Erwähnung wert, weil er bei Handyanrufen, die den Kaminbau unterbrechen, regelmäßig ins lokale Idiom switcht. „Häsch’s d’r scho emol agluegt?“, fragt er dann zum Beispiel, und statt „hinauf“ sagt er „nuffzus“. Nicht nur Frankreich ist nah, sondern auch die Schweiz. Die Endinger nennen ihr Städtchen Städtli, zwischen verwinkeltem Fachwerk schlängeln sich darin Engelgässli oder Spitalgässli. Wer Autofahrer von privaten Stellplätzen fernhalten möchte, hängt ein gelbes Schild an die Straße: „Do chasch di Karre nit anestelle.“
Dolce far niente für einen halben Tag
Es folgen die Aufgaben drei und vier. Einen Riesenberg Altglas wegschaffen und Bohnenpflücken im Garten. Anschließend geht’s zur Stärkung runter ins Städtli, Ronalds Mutter hat gekocht: Reis mit Brokkoli und Blumenkohl, Karotten und Paprika, dazu Schweinefleisch für die Nichtvegetarier. Gefolgt von Schokopudding. Dann, gegen halb drei, ist Gastarbeiterfeierabend. Oder, wie man hier sagt: Fiirobe.
Um 18 Uhr gibt’s Abendessen, lässt Ronald mich noch wissen. „Sag Bescheid, wenn du nicht kommst!“ Mein Frühstücksfail hängt mir offenbar noch nach.
Nun jedenfalls: normaler Urlaub, dolce far niente für einen halben Tag. Das nachmittägliche Nixtunmüssen lädt ein zum Spaziergang durchs Städtli. Zum erfrischenden Sprung in den fußläufigen Erleweiher. Auch für eine kleine Radtour über den Rhein, rüber nach Frankreich, reicht ein Nachmittag aus. All das mit dem guten Gefühl, schon etwas geleistet zu haben.
Was ich sonst noch mitnehme außer der Erfahrung, wie gut es sich anfühlt, Gutes zu tun? Sehr schnell einem Winzerleben, das mir zuvor fern lag, sehr nahe zu kommen. Unter einem üppig behangenen Himmelszelt hindurch zum Frühstück zu huschen. Die Einsicht, wie meditativ Arbeiten in der Natur sein kann.
Bei der Feigenernte etwa. Sobald ich eine der Früchte kappe, quillt an ihrem Stiel ein weißer, klebriger Tropfen hervor. Es ist, als würden Milch und Honig zugleich auf mich niederregnen. Die Hand klebt an der Schere, die Haare kleben auf der Stirn, Fruchtfliegen und Wespen umschwirren mich, doch all das blende ich ebenso aus wie die Welt jenseits der Feigenbaumkrone. Was zählt, ist in diesem Moment nur die nächste Frucht, versteckt hinter Blätterwerk, die mir einen kleinen Jäger-und-Sammler-Glücksschub beschert. Es sind Erlebnisse, die normalen Touristen verwehrt bleiben.
Für mich werden keine Heile-Welt-Fassaden errichtet. Ich werde hinter die Kulissen gebeten, um dort mit anzupacken. Ich werde ernst genommen. Und ernsthaft willkommen geheißen – schon allein, weil meine Arbeitskraft willkommen ist. Das verbindet.
Und auch das nehme ich deshalb mit: vom Fleck weg Teil einer Frohnaturfamilie zu sein, die sich – Permakulturgarten, Regenwasserzisterne, Solarthermie, Photovoltaik, E-Auto – Gedanken ums große Ganze macht. Viele Gedanken.
Als ich mit Ronald und seinen Kindern eines Nachmittags am Ufer des Weihers sitze, erzählt er mir von dem Lehrgeld, das er für den Verzicht auf Pestizide zahlen musste. 2012, Jahr eins nach Übernahme des väterlichen Betriebs, wurde ein Großteil der Ernte vom Falschen Mehltau dahingerafft. Inzwischen praktiziert Ronald probiotischen Pflanzenschutz, so nennt er das, mit Kompost etwa oder mit Molke. „Es ist der Versuch, die Weinreben wieder in Selbsttätigkeit zu bringen.“ Im Bioweinbau sind nichtchemische Pestizide sogar erlaubt, aber selbst die verschmäht er. Wenn man eine Pflanze beschütze, indem man um sie herum alles abtöte – könne sie da überhaupt noch irgendwelche Resistenzen entwickeln? „Oder legt sie sich quasi auf die Couch? Ist sie vielleicht deshalb anfällig für Krankheiten, weil das ganze System aus dem Gleichgewicht ist?“ Um das herauszufinden, glaubt er, müsse man auch mal ins Risiko gehen.
Nachdem er mich mit Weinbauwissen und die Kinder mit Eis vom Kiosk versorgt hat, springt Ronald, Kopf voran, in den kühlen Weiher.
Ein Sprung ins kalte Wasser erwartet auch mich, als endlich der große Tag gekommen ist: mein erster Einsatz als Erntehelfer, bei der letzten Lese des Jahres. Droben im Weinberg stehen noch ein paar voll behangene Rebenreihen.
Fünf Minuten vor der Zeit ist des Winzers Pünktlichkeit
Punkt acht Uhr ist Treffpunkt in der Hofeinfahrt. Als ich um zwei nach acht aus dem Wohnwagen trete, kommt Ronald mir schon entgegen: „Fünf Minuten vor der Zeit ist des Winzers Pünktlichkeit!“ Autsch.
Ronald hat ein halbes Dutzend weitere Helferinnen und Helfer zusammengetrommelt, darunter auch sein Vater und sein Patenonkel. Ein paar steigen in den Pick-up, ein paar stoßen vor Ort am Weinberg zu uns. Routiniert verteilt Ronald Scheren, Eimer und Instruktionen. Und legt das Tempo vor.
8.41 Uhr. Ronald hat zwei Eimer bis zur Oberkante mit Trauben gefüllt, entleert sie in den Stahlkessel. Ich blicke betreten in meinen Eimer. Die Beeren bedecken nicht mal den Boden zur Gänze.
9.06 Uhr. In der Rebenreihe nebenan läuft Ronald schnurstracks an mir vorbei. Schwere Schritte. Ich trau mich kaum aufzuschauen. Tu’s dann doch. Wie befürchtet: zwei weitere randvolle Eimer.
9.49 Uhr. Mein erster Eimer ist gefüllt.
Die kleinen Plagegeister, die uns umschwirren, seien Beißmücken, erklärt Ronald. „Die stechen nicht. Die beißen ein Stückchen Fleisch aus der Haut. Deshalb: Immer in Bewegung bleiben!“ Kurz frage ich mich, ob Ronald die fliegenden Beißer absichtlich angesiedelt hat, um die Erntehelfer anzutreiben.
12.05 Uhr. Der Rücken schmerzt. Der Schweiß rinnt. Die Sonne sticht. Ich nutze jeden Quadratzentimeter Weinblattschatten. Ronald zieht sein T-Shirt aus, wickelt es sich wie einen Turban um den Kopf. Ein Mäusebussard kreist über uns. Ob er in uns potenzielles Aas wittert?
Kurz vor eins, ein erlösender Ruf: „Fiirobe!“ Raus aus den Reben!
Im Schatten vor der Scheune des Winzerhofs gibt es Mittagessen: vegetarische Lasagne und „Cabernet Sauvignon Natür“ – der Wein, den wir heute geerntet haben, aber Jahrgang 2019. Auch einen Marmorkuchen hat Ronalds Mutter gebacken. Es sei der 23. Kuchen der Saison, erzählt sie. Macht 22 Erntetage, denn: „An einem Tag gab’s zwei Kuchen. Da waren es 20 Helfer.“
Nach dem Essen blickt Ronald rüber zu mir: „Hast du ’ne kurze Hose mit?“ – „Na ja, so etwas in der Art“, antworte ich zögerlich. „Eine Badehose.“ – „Anziehen!“
Zurück vom Wohnwagen, in Badehose und Badeschlappen, gucke ich fragend in die Runde. „Ich bin auch schon mal in den Bottich gestiegen“, murmelt Ronalds Sohn Kuchen mampfend. Der Groschen fällt. Ich spüre Vorfreude und auch ein bisschen Bangen. So viel Verantwortung!
Der massive Stahlbottich hinter der Scheune hat ein Fassungsvermögen von 800 Litern, das reicht für rund 500 Kilo Trauben. Er ist nicht ganz bis zur Hälfte gefüllt. 180 bis 200 Kilo, schätzt Ronald. Mit einem eiskalten Gartenschlauchstrahl spritzt er meine Füße und Beine ab. Einseifen. Noch mal abspritzen. Über einen Holzschemel erklimme ich die Kesselkante und gleite in den Bottich.
Ich trete auf der Stelle. Spritzend zerplatzt die Tagesernte. Wacker stapfe ich, erst auf den Trauben, dann in den Trauben, sinke ein, immer tiefer. Bald sind meine Beine bis zu den Knien in einem blutroten Tümpel verschwunden. Mein Puls pocht. Puh! Ganz schön anstrengend, wie überhaupt der ganze Urlaub. Meine Konditionsschwäche ist mir einerseits ein bisschen peinlich. Andererseits passt es ja, dass sie in einem Weinbottich ans Licht kommt. In vino veritas gilt offenbar nicht nur fürs Trinken.