"Mindestens 0,8 Promille Blutalkohol" konstatiert die Staatsanwältin in ihrer Anklageschrift; der Angeklagte räumt in einer von seinem Anwalt verlesenen persönlichen Erklärung zum Tathergang ein, "mindestens zehn Biere, eher mehr" an diesem Tag getrunken zu haben. (Symbolfoto) Foto: © pixabay / stevepb

Ließ Autofahrer Schwerverletzte einfach liegen? Mann will nichts mitbekommen haben - und schweigt.

Kreis Freudenstadt - Tragisches Unglück, von dem der Täter in seiner Volltrunkenheit nichts mitbekommen hat, oder nach neuer Rechtssprechung sogar versuchter Mord? Der Strafprozess zu einer Unfallflucht, bei der in Dornstetten zwei Fußgänger angefahren und schwer verletzt zurückgelassen worden waren, ist eröffnet.

Verhängnisvoller Tag im Oktober 2016

Vor der 1. Schwurgerichtskammer des Landgerichts Rottweil arbeitet seit Montag ein fünfköpfiges Richtergremium unter dem Vorsitz von Karlheinz Münzer den Fall juristisch auf – und entschuldigte sich erst einmal ausführlich bei allen Prozessbeteiligten. Denn jener verhängnisvolle Tag – der 29. Oktober 2016 – liegt mittlerweile mehr als dreieinhalb Jahre zurück. Dass es so lange bis zur Verfahrenseröffnung gedauert habe, sei laut Münzer "ein einmaliger bedauerlicher Ausreißer" und keinen Fall Gepflogenheit des Landgerichts.

Hintergrund: Ursprünglich sollte das Amtsgericht Horb den Fall mit einem Strafbefehl gegen den Fahrer abhaken. Der Richter in Horb wies die Ermittler jedoch darauf hin, dass die Tat nach neuerer Rechtsprechung auch als versuchter Mord gewertet werden könne – und damit in die Zuständigkeit des Landgerichts Rottweil falle. Dort folgte man diesem Hinweis. Kriminalistische Untersuchungen, Ermittlungen sowie Gutachten hätten sich aber "hingezogen", so Münzer. Zuletzt musste der Prozess wegen Corona noch mal verschoben werden.

"Mindestens 0,8 Promille Blutalkohol"

Der Fall: Am späten Abend des 29. Oktober 2016 soll ein damals 42-Jähriger in Dornstetten auf der Freudenstädter Straße Richtung Innenstadt unterwegs gewesen sein – nach einer Feier in einem Sportheim "stark alkoholisiert". Wie stark, dass ließ sich offensichtlich nachträglich nicht mehr verlässlich feststellen. "Mindestens 0,8 Promille Blutalkohol" konstatiert die Staatsanwältin in ihrer Anklageschrift; der Angeklagte räumt in einer von seinem Anwalt verlesenen persönlichen Erklärung zum Tathergang ein, "mindestens zehn Biere, eher mehr" an diesem Tag getrunken zu haben. Fahrtüchtig war er jedenfalls auch nach eigener Einschätzung nicht mehr, weshalb er – vermutlich im Sekundenschlaf – in einer langgezogenen Linkskurve vor der Einmündung der Jakob-Mutz-Straße mit seinem Familien-Van von der Straße abkam und ein Ehepaar auf dem Gehweg erfasste. Der damals 55-jährige Mann und seine 56-jährige Frau wurden schwer verletzt.

Eine der offenen Fragen: Hatte der betrunkene Fahrer beide Passanten gerammt oder wurde der Mann durch die Wucht des Aufpralls mitgerissen? Das lässt sich ebenfalls nicht mehr eindeutig feststellen. Die Polizei stellte den Unfallwagen sicher. Faseranhaftungen und Lackspuren an der Kleidung beweisen nur, dass die Frau angefahren worden war. Das Ehepaar kann sich an den Unfall nicht mehr erinnern. Beim Mann setzte das Gedächtnis erst wieder ein, als er bereits nach seiner Frau suchte, die er lebensgefährlich verletzt in einem Gebüsch fand. Die Frau gab an, nur "schemenhafte Erinnerungen" zu haben, die erst im Flur im Krankenhaus auf den Weg zur Not-OP einsetzten. Der Unfall sei der Beginn "einer langen und bis heute nicht vollständig ausgestandenen Leidensgeschichte", wie die Eheleute in ihrer Zeugenaussage bekräftigten.

Unfallfahrer will nichts mitbekommen haben – und schweigt

Der Angeklagte selbst will von all dem ebenfalls nicht mitbekommen haben. Er sei wohl durch den Aufprall aufgewacht und habe gedacht, er sei gegen einen Rinnstein oder eine Laterne gefahren. Da der rechte Vorderreifen nach dem Unfall platt war, habe den Wagen eine Straße weiter vor einer Werkstatt abgestellt und sei dann "wohl zu Fuß" nach Hause gegangen. Daran könne er sich ebenfalls nicht mehr erinnern. Anwohner berichteten von Hilferufen und Schreien der Verletzten. Die Polizei fand das Unfallfahrzeug am nächsten Tag und nahm den Fahrer zuhause fest.

Durch seinen Anwalt ließ der Angeklagte verkünden, dass er "zur Sache" – also zum eigentlichen Unfallgeschehen – keine weiteren Aussagen machen und keine weiteren Fragen des Gerichts beantworten wolle. Deshalb stützt sich die Kammer jetzt allein auf frühere Aussagen des Angeklagten in den Vernehmungen durch die Polizei und später durch einen psychiatrischen Sachverständigen. Außerdem hatte der Angeklagte einige Wochen nach dem Unfall das Gespräch mit dem Ehepaar gesucht, um sich diesen gegenüber zu erklären und zu entschuldigen.

Zweifacher Familienvater ohne Vorstrafen bis zum tragischen Tag

"Wir waren froh, dass er das gemacht hat", so die Eheleute fast wortgleich. "Es war gut, dass er Reue gezeigt hat." So sei "eine gewisse Art von Verzeihung" möglich gewesen. "Ich hoffe, dass er die Wahrheit gesagt hat", schob der Ehemann hinterher, die Aussage betreffend, vom eigentlichen Unfall und den schwersten Verletzungen seiner Frau nichts mitbekommen zu haben.

Das Verfahren gegen den 45-jährigen – ein verheirateter zweifacher Familienvater ohne Vorstrafen – ist auf insgesamt drei Verhandlungstage angesetzt. Da die Rauschfahrt und der Unfall unstrittig sind, wird es weiteren Verlauf vor allem darum gehen, ob der Mann an jenem Abend mitbekommen hat, dass er jemanden angefahren hatte. Dann käme Unfallflucht dazu. Außerdem steht die Anschuldigung des versuchten Mordes im Raum – wenn sich belegen lässt, dass der Unfallfahrer ganz bewusst seine schwer verletzten Opfer zurückgelassen hatte, um eine Straftat zu verdecken, und dabei der Tod durch unterlassene Hilfe billigend in Kauf genommen wurde. In diesem Fall könnte dem Angeklagten schlimmstenfalls eine lebenslange Freiheitsstrafe drohen.

Trotz der Schwere der Anschuldigungen konnte der Angeklagte den Gerichtssaal als freier Mann betreten; und nach dem Verhandlungstag auch wieder verlassen. Auch seinen Führerschein hat der gelernte Industriemechaniker seit Frühjahr 2018 wieder zurück. Von der Möglichkeit, als Nebenkläger in diesem Verfahren aufzutreten, hat das geschädigte Ehepaar verzichtet. Allerdings bahnt sich ein weiterer Rechtsstreit an. Sie kämpfen mit der Versicherung des Angeklagten um die Übernahme der Kosten für die gesundheitlichen Schäden, die die Frau erlitten hat.