Gegenüber des Rathauses stand das Leibgedinghaus, in dem die Dame damals unterkam. Montage: Obergfell; Foto: Cools/Pixabay Foto: Schwarzwälder Bote

Heimatgeschichte: Kinderlandverschickung 1944: Eine 81-Jährige erinnert sich an ihre Zeit in Weiden

Als Ortsvorsteher Wolfgang Vielsack im Sommer die E-Mail einer Frau aus Rheinland-Pfalz weitergeleitet bekam, hätte er nicht gedacht, dass es der Beginn einer umfangreichen Spurensuche in Weiden werden würde, die bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurückreicht.

Dornhan-Weiden. "Meine Mutter möchte gerne nochmal die Plätze ihrer Kindheit im Zweiten Weltkrieg besuchen", so beginnt die E-Mail von Kerstin Kaminski, die sich im Auftrag ihrer Mutter schlau machte. Als nach einem Bombenangriff auf Düsseldorf beziehungsweise Ratingen nichts mehr stand, sei die heute 81-Jährige mit ihrer Mutter und Schwester nach Weiden evakuiert worden.

"Meine Mutter weiß nur noch, dass sie im Austragshäusel bei einer Bauernfamilie untergebracht waren. Sie erzählt von den französischen Besatzungssoldaten, einem Winter, in dem sie sehr erkrankte, und dass Kirschwasser ihr das Leben rettete", hieß es weiter. Sie wisse noch, dass sie an Diphtherie erkrankt sei. An viel mehr könne sich die 81-jährige Brigitte Josefine Moos, geborene Koolen, jedoch nicht erinnern.

Ortsvorsteher Wolfgang Vielsack wollte helfen und begab sich sogleich auf Spurensuche. "Das ist eine Sache, um die man sich gern kümmert", meint der Geschichtslehrer im Ruhestand.

Als der Krieg nach Deutschland kam und es Bombenangriffe der Alliierten gab, wollten viele Eltern ihre Kinder im Zuge der sogenannten Kinderlandverschickung in Sicherheit bringen, weiß er zu berichten. Nach Hamburg und Berlin wurden auch Kinder aus Städten wie Köln und dem Ruhrgebiet "verschickt". Während seiner Suche hatte Vielsack dann eine Vermutung. Er fotografierte das Haus schräg gegenüber von der Schule und schickte es der älteren Dame, die mittlerweile bei Limburg wohnt, zu. Die war sich jedoch recht sicher, dass es nicht das richtige sei. Die Suche ging weiter. "Meine erste Anlaufstelle war der Stammtisch", beschreibt der Ortsvorsteher seine Vorgehensweise.

Mit dem Bild kehrt die Erinnerung zurück

Bei einem 80er-Geburtstag traf Vielsack schließlich auf jemanden, der in seiner Jugend an Diphtherie erkrankt war und im Oberndorfer Krankenhaus gelegen hatte, als eine Frau aus Nordrhein-Westfalen ebenfalls behandelt wurde. Das musste Brigitte Moos sein. Doch die Information ließ keine Rückschlüsse auf das gesuchte Haus zu.

Bei einer Frau gleichen Jahrgangs wie die Suchende erhielt Vielsack schließlich den entscheidenden Hinweis. Sie erinnerte sich daran, im Nachbarhaus von Moos aufgewachsen zu sein. Die ältere Dame sei im Leibgedinghaus von Matthias Guhl aufgewachsen, hieß es.

Und tatsächlich: Als Vielsack mithilfe eines Weidener Hobbyhistorikers ein Foto aus dem Bildband "Alt-Weiden" von diesem Haus, das gegenüber dem Rathaus neben dem Kirchenparkplatz stand, nach Rheinland-Pfalz schickte, kam die Bestätigung. Und nicht nur das. Auch ein Teil der Erinnerung kehrte bei der 81-Jährigen zurück. Im Bauernhaus, in dem sie untergekommen sei, wurde geschlachtet. Es habe am Hang gelegen. Die evakuierten Kinder hätten alle zusammen an der Hauptstraße gespielt.

An Heiligabend 1944 seien drei Ortsleute, als Christkind und Begleiter verkleidet, vorbeigekommen und hätten den Evakuierten Geschenke gebracht. Was sie bekommen habe, wisse sie nicht mehr, wohl aber, wie gut sie sich dabei gefühlt habe, so schreibt die Tochter.

Wache mit der Pistole unter dem Kopfkissen

Und dann gab es ein Erlebnis, das sich in die Erinnerung eingebrannt hat. 1945 kamen die Franzosen. Zwei Algerier kamen der Erinnerung von Brigitte Moos nach ins Haus und setzten sich auf eine Bank. Angst habe sie keine gehabt. Kurze Zeit später sei ein französischer Soldat hineingekommen und habe die Algerier hinausgeschickt.

Die ganze Nacht habe er mit der Pistole unter dem Kissen über die Familie gewacht. Am nächsten Tag war er verschwunden.

Trotzdem gebe es immer noch große Erinnerungslücken, schreibt die Tochter. "Der Weg zwischen Wunschdenken und Erinnerung ist manchmal sehr schmal. Irgendwie kommt ihr das Haus auf dem Foto bekannt vor, aber 100 Prozent sicher ist sie sich nicht", heißt es. Die Mutter sei traurig, dass sie sich nicht richtig erinnern könne. Die schrecklichen Erinnerungen an den Einfall der Franzosen, Diphtherie und Krätze würden einfach überwiegen.

Nach der ersten Idee, die Orte ihrer Kindheit erneut aufzusuchen, hatte die 81-Jährige wohl kurzzeitig Abstand davon genommen, wirklich noch einmal nach Weiden zu kommen. Zu groß war die Verunsicherung, die Erinnerung durch das neue Bild des Dorfes, das sich seitdem stark verändert hat, zu ersetzen.

Ortsvorsteher Vielsack hat sie zur Seniorenfeier, die am zweiten Advent, 8. Dezember, ab 14 Uhr im Michaelishaus stattfindet, eingeladen. Wenn es die Gesundheit zulässt, möchte die 81-Jährige dabei sein und noch einmal den Ort sehen, in dem sie in einer schweren Zeit Zuflucht und wohl auch ein wenig Hoffnung gefunden hat.