Die Informationsfahrt führt die Stadträte nicht nur nach Tübingen, wo ein Treffen mit OB Boris Palmer auf dem Programm steht, sondern auch nach Waldenbuch, wo Ritter Sport und das Museum der Alltagskulturen besichtigt werden konnten. Fotos: Jakober Foto: Schwarzwälder Bote

Exkursion: Gemeinderäte auf Informationsfahrt / Grüner OB präsentiert seine politischen Ideen

Turnschuhe, Jeans und Polo-Shirt: So präsentiert sich Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen, den Gemeinderäten auf ihrer Informationsfahrt.

Donaueschingen/Tübingen (jak). Doch wichtiger als sein Auftreten ist das, was er sagt. Denn Boris Palmer ist gemeinhin dafür bekannt, dass er sagt, was er denkt. Auch wenn er sich zu Verhältnissen in Donaueschingen nicht äußern will. "Das macht man einfach nicht." Und doch sieht man, dass die Stadträte genau das tun: sich die Frage stellen, ob man Palmers Wort doch auch auf ihre Stadt anwenden könnte und sollte.

Innenentwicklung: Eine eigene Abteilung mit acht Leuten kümmert sich in Tübingen um die Innenentwicklung, denn die Frage "Wo wohne ich?" sei für die Tübinger die dringendste Frage. Und Palmer ist deutlich: "Ich erlaube nicht, dass Grundstücke leer stehen." Die Nachverdichtung habe oberste Priorität, deshalb seien auch lange keine neuen Baugebiete ausgewiesen worden. Neues Planungsrecht gebe es nur, wenn alle Grundstücke an die Stadt verkauft würden. Den Zuschlag erhalte nicht der, der den höchsten Preis, sondern das beste Konzept biete. Das sah vor Palmer ganz anders aus: "Von 1990 bis 2005 ist Tübingen nicht gewachsen." Jeder neue Wohnraum sei außerhalb entstanden. Dabei würden die jungen Menschen durchaus gerne in der Stadt wohnen, auf das Auto verzichten und Angebote nutzen, die Tübingen unterbreitet. Angst vor Klagen der Grundstückseigentümer hat Boris Palmer nicht: "Das Recht ist auf unserer Seite, und ich fürchte keine rechtliche Auseinandersetzung." Schließlich habe er im Rathaus eine gute Rechtsabteilung, und von rund 500 Prozessen habe die Stadt lediglich zwei oder drei verloren. Und so bekommen die Eigentümer mit brachliegenden Grundstücken Post aus dem Rathaus, die verschiedene Möglichkeiten aufzeigt. Wer nicht reagiert, bekommt ein Baugebot, das fordert, das Grundstück in einer entsprechenden Zeit zu bebauen. Als letzter rechtlicher Schritt steht die Enteignung. "Ich lasse mich in diesem Falle gerne Kommunist schimpfen", so Palmer. Das sei die einzige Lösung, die Innenentwicklung voranzutreiben. "Wenn jemand einen besseren Weg findet, gerne."

Bezahlbarer Wohnraum: Hier sieht Palmer ein Versagen der Marktwirtschaft. Mehr Wohnungen bauen, um die Preise zu senken, stehe nicht zur Debatte, denn schon jetzt würden die Preise in der Bauwirtschaft stetig steigen. Bei mehr Aufträgen würde sich die Preisspirale noch beschleunigen, Eigentümer würden gestiegene Baukosten an ihre Mieter weitergeben. Auch die Europäische Zentralbank sorge mit ihrer Niedrig-Zins-Politik dafür, dass jeder, der Geld habe, bauen wolle, was die Preisspirale weiter beschleunige. In Tübingen gibt es ein Handlungsprogramm mit dem Titel "Fairer Wohnen". Damit wollen Gemeinderat und Stadtverwaltung erreichen, dass mehr Wohnraum für alle Einkommensgruppen und Haushaltsformen geschaffen wird. Im Jahr 2010 entstand jede zweite Sozialwohnung, die in Baden-Württemberg gebaut wurde, in Tübingen. Der Wohnungsbau kann mit der Nachfrage aber nicht Schritt halten – Tübingen gehört zu den teuersten Städten und belegt bei den Mietpreisen 2016 deutschlandweit den vierten Platz.

Bürgerbeteiligung: Hier müsse man neue Wege gehen. "Wenn wir eine Veranstaltung machen, um zu informieren, dann kommen immer die gleichen 200 Bürger", erklärt Palmer. Und so gibt es in Tübingen ganz andere Formen, um die Bürger einzubeziehen. Zum Beispiel werden mit einem Losverfahren die verschiedensten Bürger zusammengebracht, die über ein Thema diskutieren, das sich in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft abspielt. Funktioniert das? "Beim ersten Versuch hatten wir dreimal mehr Zusagen, als wir unterbringen konnten." Handle es sich um ein konkretes Projekt, das die Menschen betreffe, sei das Interesse stark vorhanden. Auch regelmäßige Umfragen gebe es. Denn Verwaltung und Stadträte seien häufig so von ihren Milieus geprägt, dass sie sich oft verschätzten, was die Bürger wirklich interessiere.

Hinzu kommt eine App, mit der die Bürger über verschiedenen Themen abstimmen können. "Die Entscheidung ist für den Rat nicht bindend", sagt der Tübinger OB. Aber sie spiegle das Stimmungsbild in der Stadt deutlich wider.

Flüchtlinge: Als Palmer im August 2015 von seiner Partei "Realismus in der Flüchtlingsdebatte" forderte, musste er viel Kritik hinnehmen. Nun sieht er Deutschland in einer Realität angekommen, die er sich vor drei Jahren schon gewünscht habe. Nämlich dass man sehe und vor allem darüber diskutiere, welche enormen Aufgaben damit verbunden seien. Wohnungsbau, Arbeitsplätze und die Integration. Wichtig für die Akzeptanz sei die Sicherheitsfrage. "Der Staat schaut nicht hin und greift nicht durch." In Tübingen hätten Umfragen ergeben, dass bei der Hälfte der Bürger das Sicherheitsgefühl nachgelassen habe.

Politiker der Zukunft: Welche Art von Politiker braucht das Land? Weg von der Harmoniesucht und der Gleichmacherei, das fordert Palmer. Denn so seien nur minimale Kurskorrekturen möglich. Radikale Änderungen brauche das Land, und dazu gehöre nicht, dass man die AfD ignoriere oder sie gar kopiere.

Boris Palmer wurde 1972 in Waiblingen geboren. Er ist Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Von 2001 bis 2007 war er Landtagsabgeordneter. Er vertrat über ein Zweitmandat den Wahlkreis Tübingen. Im Herbst 2004 bewarb sich Palmer als Grünen-Kandidat für das Amt des Oberbürgermeisters von Stuttgart. Im ersten Wahlgang erreichte er 21,5 Prozent der Stimmen und belegte den dritten Platz hinter Amtsinhaber Wolfgang Schuster (CDU) und Ute Kumpf (SPD). Im zweiten Wahlgang trat Palmer nicht mehr an. Am 22. Oktober 2006 wurde Palmer zum Oberbürgermeister von Tübingen gewählt. Als Herausforderer der seit acht Jahren amtierenden Amtsinhaberin Brigitte Russ-Scherer (SPD) erreichte er bereits im ersten Wahlgang 50,4 Prozent der Stimmen. Viereinhalb Monate nach seinem Amtsantritt legte Palmer mit dem Hinweis, in der Politik stets die aktive Gestaltungsmöglichkeit der Opposition vorzuziehen, sein Landtagsmandat nieder. 2014 wurde Palmer mit 61,7 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. Die Gegenkandidatin Beatrice Soltys kam auf 33,2 Prozent.