Ursula Stenzaly, hier in ihrer Hamburger Wohnung mit einem Bild, das sie als Dreijährige zeigt, ist trotz 65 Jahren in Hamburg ihr Leben lang Donaueschingerin Foto: Klitzsch Foto: Schwarzwälder-Bote

Ursula Stenzaly verschlug es nach dem Krieg nach Hamburg / Ihr Herz blieb immer in Donaueschingen

Von Michael Klitzsch

Donaueschingen. Am 1. April 1946 hat Ursula Stenzaly schon mehr gesehen, als ein elfjähriges Mädchen je sehen sollte: Menschen auf der Flucht, zerbomte Straßen, tieffliegende Kampfflugzeuge, Phosphorleichen. Doch der Tag, der das Leben der gebürtigen Donaueschingerin nachhaltig verändert, ist jener 1. April 1946 nach Ende des zweiten Weltkriegs.

Es war der Tag, an dem die elfjährige Ursula und ihre Familie gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen.

Ursula Stenzaly wird am 15. Januar 1935 im Donaueschinger Krankenhaus geboren. Ein Jahr später kommt ihr Bruder Herbert auf die Welt. Ihre Mutter, Anna Weißhaar, stammt mütterlicherseits aus Aasen, die Verwandtschaft des Vaters Max Simon aus Donaueschingen, mit seinem Vater und seinen Brüdern führt er die "Buchdruckerei Gebrüder Simon" in der Zeppelinstraße in Donaueschingen.

Schon in jungen Jahren erlebt Ursula einschneidende Veränderungen in ihrem Elternhaus. Zunächst wird die Mutter schwer krank, so dass Ursula für eine Zeit bei einer Pflegemutter in Döggingen leben muss. Dann trennen sich ihre Eltern. Ihre Mutter zieht mit den Kindern nach Villingen und lernt dort einen neuen Mann kennen – den Hamburger Theodor Meier. Im Dezember 1942 ziehen die beiden mit Ursula und ihrem kleinen Bruder nach Hamburg.

Die heute 77-Jährige erinnert sich noch gut an die ersten Eindrücke von der Hafenmetropole: "Wir sind mit dem Zug in der Morgendämmerung über die Elbbrücken gefahren. Und als wir ausstiegen, stand dort ein riesiger, beleuchteter Tannenbaum unter dem Dach des Bahnhofs. Das hat mich schwer beeindruckt." In Hamburg ist die Donaueschingerin mit ihren dunklen Haaren und dem badischen Dialekt 1946 eine echte Exotin. "In der Pause haben alle um mich herum gestanden und mich ausgefragt", erinnert sich Stenzaly. Ob sie Tracht trage. Ob sie jodeln könne. Ihre Herkunft hatte für das junge Mädchen Vor- und Nachteile: "Bei den Volkstanz-Stunden wollten alle Jungs mit mir tanzen. Und die Mädchen waren deswegen sauer auf mich."

Die Phase der unbeschwerten Momente sollte für die kleine Ursula nicht lange andauern. Ihre Mutter und ihr Stiefvater heiraten im März 1943 in Hamburg. Wenige Monate später kommt der Krieg. Der Luftangriff auf die Hafenstadt unter dem Codenamen "Operation Gomorrha" ist der bis dato schwerste der Luftkriegsgeschichte und legt Hamburg in Schutt und Asche. Ursula harrt mit ihrer Familie in einem Bunkerkeller neben ihrem Wohnhaus aus. "Am nächsten Morgen wurde es nicht hell", erinnert sich die Donaueschingerin. Sie flüchten aus der Stadt auf der Ladefläche eines Viehlasters. Ursula sieht Straßen voller Trümmer und verbrannter Menschen. Bilder, die sie ein Leben lang nicht vergisst. Ihre Familie flieht erst nach Norden, dann nach Süden, schlägt sich bis nach Nürnberg durch und entgeht dort knapp dem nächsten Luftschlag. "Wir haben uns in Höhlen in den Bergen versteckt, während Nürnberg brannte", erinnert sich Stenzaly.

Die Flucht geht weiter. Über Karlsruhe und Freiburg. Auch hier: Bomben und Elend. Schließlich landet die Familie in der kleinen Gemeinde Sölden, zehn Kilometer südlich von Freiburg. Sie kommen beim Bruder der Mutter unter, August Weißhaar, gebürtig aus Aasen. Hier erlebt Ursula Stenzaly, wie der Krieg zu Ende geht: Französische Soldaten marokkanischer Abstammung stürmen durchs Dorf und rufen immer wieder: "Wo SS?" Es ist offenbar geschafft, die Familie will sich niederlassen, die Eltern verkaufen aus der Ferne ihr Haus in Hamburg, ihre Möbel lassen sie mit einem Lastwagen nach Sölden kommen. Hier im Schwarzwald wollen sie ein Haus bauen. Die lange Flucht quer durch Deutschland scheint ein Ende zu haben. Doch dann kommt der 1. April 1946. Per Dekret wird von den Siegermächten angeordnet, dass jeder Bürger sich unverzüglich dorthin zu begeben hat, wo er herkommt. Nur so habe man Anspruch auch die überlebenswichtigen Lebensmittelkarten. Für Ursula und ihre Familie heißt das: Sie müssen das Leben im Schwarzwald aufgeben und wieder zurück nach Hamburg.

Nach einer beschwerlichen Zugreise strandet die Familie mit ihrem wenigen Hab und Gut im Güterbahnhof von Altona. Sie finden eine Wohnung an der Außenalster. Es ist eine schwierige Zeit für die Familie. Im November 1946 bekommt die Mutter ein drittes Kind, ein Mädchen. Es stirbt noch im Krankenhaus, zwei Monate nach ihrer Geburt. Diphtherie, eine Infektionskrankheit hat sich im Krankenhaus verbreitet und tötet mehrere Säuglinge. Ursula Stenzaly geht es nicht gut im Norden. "Ich hatte furchtbares Heimweh", erzählt sie. Geholfen hätten ihr in dieser Zeit die Gottesdienste im St.-Marien-Dom – auch weil sie dort auf einen aus Karlsruhe stammenden Pfarrer trifft. Auch Ursulas Mutter Anna wird mit der neuen Heimat nicht warm: "Im Februar war sie immer stinksauer, weil sie keine Fasnacht feiern konnte", erinnert sich Ursula Stenzaly.

Die Familie kämpft sich durch die schwierigen Jahre. 1954 stirbt der Stiefvater an den Folgen einer Kriegsverletzung. Ursula Stenzaly beginnt im gleichen Jahr eine Ausbildung zur Buchbinderin. Und ebenfalls im gleichen Jahr lernt sie beim Tanztee ihren zukünftigen Mann Harald Stenzaly kennen. Sie heiraten 1958. Zusammen besucht das Ehepaar Stenzaly in den folgenden Jahrzehnten regelmäßig den Schwarzwald. Meistens quartieren sie sich in der Kesslermühle in Hinterzarten ein und besuchen von dort Verwandte in Donaueschingen und Freiburg. 1978 hat Ursulas Mutter genug vom hohen Norden. Sie zieht in das Donaueschinger Altenheim St. Michael, wo sie bis zu ihrem Tod am 6. Mai 1989 bleibt. Hier kann sie endlich Fasnacht feiern: An den närrischen Tagen tanzt sie in Donaueschinger Tracht auf der Bühne des Heims. "Sie ist im Herzen immer Badnerin geblieben", sagt ihre Tochter. Auch Ursula Stenzaly pflegt bis heute ein herzliches Verhältnis zu ihrer Heimat. "Sobald ich am Bahnhof in Donaueschingen stehe, fühle ich mich sofort zu Hause." Erst im März vergangenen Jahres kommt sie zu einem großen Cousinen- und Cousintreffen in den Donaueschinger "Hirschen". Ursula Stenzaly reist schon eine Woche vorher an, um sich Zeit für ihre Heimatstadt zu nehmen und im Archiv der Stadt mithilfe von Archivar Raimund Adamczyk in der Familiengeschichte zu forschen. Kopien ganzer Zeitungsseiten voller Anzeigen nimmt sie mit nach Hamburg und durchforstet sie akribisch nach den Familiennamen. Ihre Verbundenheit zu Donaueschingen zeigt sich aber auch darin, dass sich Ursula Stenzaly nach wie vor über lokale Ereignisse aufregen kann. Wie die Donauhallen. "Entsetzlich" findet sie deren äußere Optik. "Hätte ich sowas vis à vis: Ich würde ausziehen!"

Ursula Stenzaly ist im Herzen eben Donaueschingerin geblieben. Trotz mehr als 67 Jahren in Hamburg. Und trotz jenes schicksalhaften Tages im April 1946.