Sylvina Rosenfelder des Jugendhilfeangebots JuMeGa (links) steht der Pflegemutter Eva-Maria Hasenfratz (rechts) mit Rat und Tat zur Seite. Foto: Bültel

46-jährige Pflegemutter erzählt von Herausforderungen. Jugendhilfe JuMeGa sucht weitere Gastfamilien.

Donaueschingen-Grüningen - Misshandlung, sexueller Missbrauch, Drogen, Überforderung - es gibt viele Gründe, warum Kinder und Jugendliche nicht bei ihren Eltern bleiben können. Pflegefamilien sollen ihnen eine Chance auf ein normales Umfeld geben können. So wie bei der Familie Hasenfratz aus Grüningen. Bei ihnen sind aktuell vier Pflegekinder zu Hause. Deren Pflegemutter erzählt von Herausforderungen, Erlebnissen und was neue Gastfamilien beachten sollten.

"Ich finde es toll, dass ich hier nicht geschlagen werde. Bei Mama ist das öfter passiert. Meistens mit einem Gürtel - bis es geblutet hat", sagte eine von insgesamt sieben Pflegetöchtern zu Eva-Maria Hasenfratz. "Danach musste ich mich kurz hinsetzen, um es zu verdauen", berichtet die 46-jährige Pflegemutter.

Vor zwölf Jahren nahmen sie, ihr Mann und ihre beiden Söhne, die mittlerweile ausgezogen sind, die ersten Pflegekinder bei sich auf: zwei Schwestern, die damals zwei und vier Jahre alt waren. Die Mädchen leben noch heute in Grüningen und werden vermutlich dort bleiben, bis sie mindestens 18 Jahre alt sind. "Ich behandle sie wie meine leiblichen Kinder", berichtet die Pflegemutter. "Die kleine Schwester hat bis vor Kurzem auch immer Mama zu mir gesagt."

Kein pädagogischer Hintergrund erforderlich

Die Hasenfratz haben bis heute insgesamt sieben Kindern und Jugendlichen ein temporäres Zuhause gegeben. Die Vermittlung übernahm dabei nicht das Jugendamt, sondern JuMeGa (Junge Menschen in Gastfamilien), ein Jugendhilfeangebot des Vereins Arkade.

Eine Gastfamilie muss nicht immer eine Familie sein, betont Sylvina Rosenfelder, Mitarbeiterin von JuMeGa. Pflegekinder können sowohl (Ehe-)Paare mit oder ohne Kinder als auch Alleinerziehende aufnehmen. Auch das Alter spiele keine Rolle und ein pädagogischer Hintergrund sei nicht erforderlich. "Ich und meine Kollegen aus Tuttlingen lernen im Vorfeld die Familie kennen, um zu sehen, wie sie miteinander harmonieren und welche Kinder oder Jugendliche am besten zu ihnen passen würden", berichtet sie. Außerdem werde abgesprochen, was für die Familie ein absolutes No-Go sei. "Wir würden nie eine sich ritzende Jugendliche an eine Mutter vermitteln, die kein Blut sehen kann", erklärt Rosenfelder.

Wenn die insgesamt vier Mitarbeiter von JuMeGa der Meinung sind, dass ein junger Mensch in eine Gastfamilie passen könnte, wird diese darüber informiert und bekommt das Profil des Kindes oder Jugendlichen mitgeteilt. Ist die Familie einverstanden, besucht der junge Mensch die Familie gemeinsam mit JuMeGa und dem Jugendamt. Verläuft alles positiv, steht dem Einzug des neuen "Mitbewohners" nichts mehr im Wege.

"Was sie brauchen, sind Normalität und Kind sein zu dürfen"

Die Mitarbeiter von JuMeGa sind laut eigener Aussage telefonisch immer erreichbar, um auf Krisen reagieren zu können, Ratschläge zu geben oder den Pflegeeltern zuzuhören, wenn diese Dampf ablassen müssen. Und das hätten einige Eltern immer wieder nötig, weiß Rosenfelder, die seit 2019 bei JuMeGa arbeitet. Denn das Jugendhilfeangebot vermittelt junge Menschen, die selbst oder deren Eltern psychisch krank sind. "Die Kinder und Jugendliche haben schon so viele Pädagogen, Therapeuten und Ärzte gesehen, doch was sie brauchen, sind Normalität und Kind sein zu dürfen", sagt die 57-Jährige.

Als Beispiel nennt Rosenfelder den Fall eines Mädchens, das in einer Klinik von "hochspezialisierten Experten" betreut worden sei. "In der professionellen Umgebung hat sie sich nicht geöffnet." Vor vier Monaten kam die damals Achtjährige dann in eine Pflegefamilie. "Bei meinem ersten Besuch hat sie sich unter der Decke verkrochen. Mittlerweile sitzt sie jedes Mal entspannt neben ihrer Pflegemutter", erzählt Rosenfelder. Die Frau ziehe das Mädchen mit ihrer Mutter alleine auf. "Sie hat weder leibliche Kinder noch einen pädagogischen Beruf. Trotzdem hat sie das hingekriegt, was kein Fachpersonal geschafft hat", so die JuMeGa-Mitarbeiterin.

Vermittlung passt nicht immer

In diesem Fall hat das Verhältnis zwischen Gastfamilie und Pflegekind von Anfang an gepasst. Dies sei jedoch nicht immer so, weiß Rosenfelder. Vor allem bei Notfällen, wenn Kinder möglichst schnell, ohne Vorgespräche und Kennenlernen, vermittelt werden müssen, bleibe das Risiko einer Fehlentscheidung.

Auch bei der Familie Hasenfratz hat die Vermittlung einmal nicht funktioniert. Und bei einer anderen Pflegetochter sei das Verhältnis kurz davor gewesen zu kippen, berichtet die 46-jährige Pflegemutter. "Als das Mädchen sechs Jahre alt war, hat sie allen Eltern im Kindergarten erzählt, dass sie zu Hause nichts zu Essen bekommt. Einmal hat sie ihren Kopf so lange auf den Boden gehauen, bis ihr Kinn blau war - um anschließend zu behaupten, ich würde sie schlagen. Heute können wir darüber lachen, damals habe ich sie vor die Wahl gestellt: Entweder sie hört damit auf oder sie muss ausziehen. Danach hat sie sich wieder beruhigt."

Die Mutter der damals Sechsjährigen konnte sich nicht um ihre Tochter kümmern, wollte sie aber alle zwei Wochen sehen. Denn wenn den Eltern das Sorgerecht nicht entzogen worden ist, haben sie laut Rosenfelder ein Recht auf den Umgang mit ihren Kindern. "Das Mädchen konnte aber nicht mehr schlafen und hat sich die Haare ausgerissen vor jedem Besuch. Also mussten wir den Abstand zwischen den Wiedersehen vergrößern. Heute haben Kind und Eltern ein tolles Verhältnis", erzählt Hasenfratz.

Mehr Zeit durch Lockdown

Streiterein habe es zwischen der Familie Hasenfratz und ihren zwei neuen Pflegetöchtern noch nicht gegeben, berichtet die 46-Jährige. Sie vermutet, dass die Pandemie der Grund dafür ist. Denn die neun- und elfjährigen Schwestern kamen Ende Februar nach Grüningen - kurz vor dem Lockdown. Hasenfratz, die in der Reisebranche arbeitet, ist seit Monaten in Kurzarbeit und konnte dadurch mehr Zeit mit den schwer traumatisierten Mädchen verbringen. "Für mich war der Lockdown ein absoluter Segen", sagt sie.

Auch untereinander würden sich die Schwesternpaare gut verstehen. Bei einem Spaziergang kamen die Hasenfratz' und ihre vier Pflegetöchter an einem Spielplatz vorbei. "Die vier Kinder sind sofort losgerannt und haben miteinander gespielt, als ob sie gemeinsam aufgewachsen wären. Das werde ich nie vergessen", berichtet die Pflegemutter.

Vor allem mit den beiden Dauerpflegekindern hat die Familie über die Jahre hinweg eine enge Beziehung aufgebaut. "Seitdem meine Jungs ausgezogen sind, wollen die beiden Ältesten sie immer wieder besuchen." Diesen Zusammenhalt spürte Eva-Maria Hasenfratz auch, als ihr Mann einen schweren Unfall hatte. "In dieser Zeit haben wir auch gesehen, was für ein enges Verhältnis die Jugendlichen zu uns haben."

Viel Geduld und Durchhaltevermögen

Potenzielle Gastfamilien müssen trotzdem viel Geduld mitbringen und einiges aushalten können, warnt Rosenfelder. "Die Kinder haben oftmals Bindungsstörungen. Sie müssen daher die Beziehung zu der Gastfamilie immer wieder in Frage stellen: Wenn ich das und das anstelle, steht ihr dann immer noch zu mir?" Hasenfratz fügt hinzu: "Viele Kinder haben auch Essstörungen durch ihre Traumatisierung. Sie klauen dann Essen oder räumen bei Freunden die Schränke leer."

Anfangs würden die Kinder auch sehr klammern, berichtet die 46-Jährige. "Eine unserer Pflegetöchter musste als Kind mit ansehen, wie ihre Schwester sexuell missbraucht wurde. Bei uns hat sie dann nur noch an mir geklebt. Ich hatte keinen Freiraum mehr." Für solche Fälle bietet JuMeGa das Auszeit-Familienmodell an. Das Pflegekind wird dann für eine bestimmte Zeit in eine andere Gastfamilie untergebracht, damit die Pflegeeltern Luft zum Durchatmen bekommen.

Nicht alle Kinder bleiben wie bei den Hasenfratz' von Kindesalter bis zur Selbstständigkeit in einer Familie. Manchmal kommen sie als Teenager in eine neue Gastfamilie, da die Pflegeeltern den neuen Herausforderungen nicht mehr gewachsen sind. Oder die Kinder wollen alle paar Jahre in eine neue Gastfamilie, um ein anderes Umfeld und andere Familienstrukturen kennenzulernen. Doch selbst nach dem Auszug müsse der Kontakt nicht abbrechen, weiß Hasenfratz, und erzählt von einem geistig behindertem Mädchen, das kurz bei ihnen untergebracht war, bevor es in eine Einrichtung sollte. "Zehn Jahre später haben wir immer noch Kontakt zu ihr, obwohl sie nur so kurz bei uns war."

Manchmal sei auch den Pflegekindern nicht bewusst, dass sie ein familiäres Umfeld brauchen. "Eine ehemalige Pflegetochter von uns hat anfangs immer wieder gesagt, dass sie eigentlich nie in eine Pflegefamilie wollte. Letztendlich wollte sie uns aber gar nicht mehr verlassen", erzählt Hasenfratz.

Mehr Informationen unter www.arkade-ev.de