Wer im Wolterdinger Rathaus die Toilette benutzt, blickt durch Eisenstäbe hinaus ins Freie. Wie Ortsvorsteher Reinhard Müller erklärt, sind die Gitter nicht ohne Grund an dieser Stelle: Der Raum wurde zu früheren Zeiten als Arrestzelle benutzt. Foto: Schwarzwälder Bote

Heimatgeschichte: 1950 saßen im Wolterdinger Rathaus noch 67 Personen eine Nacht lang ein

Früher war alles besser. Eine vermeintliche Weisheit, die vermutlich jeder irgendwann einmal in den Mund nimmt.

Donaueschingen-Wolterdingen (guy). Die vorausgegangenen Generationen ob ihrer Lebensweise zu kritisieren, scheint jedoch ein Phänomen zu sein, das unzertrennlich zur Menschheitsgeschichte gehört. Auch im antiken Rom waren eifrige Schreiber schnell damit, einen Werte- und Sittenverfall zu erkennen. Die damit zusammenhängenden Probleme waren jedoch meist gar nicht anders, als jene, mit denen wir heute zu tun haben.

Anschauliche Beispiele dafür liefern die alten Akten, die in der Wolterdinger Ortsverwaltung lagern. Wie Ortsvorsteher Reinhard Müller sagt, gehen sie teilweise bis ins 18. Jahrhundert zurück. Dort finden sich Rechtsvorgaben, Beschwerden und Ahndungen, die sich im Laufe der Jahre ansammelten und zusammengetragen wurden.

Gitter an den Fenstern der Toilette zeugen von den alten Zeiten

Besonders imposant sind mehrere Blätter mit langen Namenslisten. Verzeichnet ist dort neben dem Geburtsdatum auch der Herkunftsort. Wolterdingen kommt dabei nicht einmal vor. Es handelt sich um Aufzeichnungen über jene Personen, die dort im Rathaus eingesperrt wurden. Wie lange das her war? Nun, gar nicht so lange, wie man annehmen mag: Im Jahr 1950 verbrachten 67 Personen eine Nacht in der Arrestzelle im Wolterdinger Rathaus. Die wird sogar heute noch benutzt. Allerdings nicht, um Leute einzusperren, sondern als Toilette. An deren Fenster prangen heute noch die Gitterstäbe aus jener Zeit und erinnern an die ehemalige Funktion des kleine Raumes. "Ich könnte mir vorstellen, dass der Raum besonders in den Zwanziger- und Dreißigerjahren noch in Benutzung war", sagt Müller.

Nürnberg, Osnabrück, Görlitz – die Eingesperrten kamen aus dem gesamten Bundesgebiet. "Ich gehe davon aus, dass es gerade nach dem Krieg viele Bettler und Landstreicher gegeben hat", so Müller. Auf der Suche nach etwas Essbarem zogen damals viele Menschen durch die noch junge Republik. Essen gab es vor allem auf dem Land, bei den Bauern. Hilfe in Form von Lebensmitteln gab es zwar, jedoch konnte es auch vorkommen, dass die Bettler über die Stränge schlugen oder aggressiv auftraten – in solch einem Fall wartete dann eventuell eine Übernachtung in der Rathauszelle. Für die Kinder der damaligen Gemeinde ein spannendes Unterfangen: Der Blick in die Zelle, ob sich wieder jemand darin befindet.

Entstanden ist die Arrestzelle vermutlich um 1922, als aus dem ehemaligen Gasthaus zum Goldenen Kreuz das Wolterdinger Rathaus wurde.

Wer aber hatte in der Gemeinde die Macht, einen Delinquenten ins Gefängnis zu stecken? Das war der Bürgermeister, wie Akten der Ortsverwaltung belegen: Nach dem badischen Gesetz von 1923 hatten Bürgermeister das Recht, bei einer Gemeinde mit über 200 Einwohnern, drei Tage Haft oder eine Strafe von 30 Mark zu verhängen. Bei Gemeinden mit bis zu 200 Einwohnern waren es immerhin noch zwei Tage Haft oder 15 Mark Geldstrafe. Für Reinhard Müller hat das jedoch nichts Reizvolles: "Gott sei Dank ist es heute nicht mehr so. Ich finde es richtig, dass es mittlerweile eine Gewaltentrennung gibt."

Beschwerden über Mai-Scherze flattern noch heute im Rathaus ein

Im damaligen Polizeistrafgesetzbuch sind auch Vergehen aufgelistet, bei denen der Bürgermeister in seiner ortspolizeilichen Funktion hatte tätig werden können. Dazu zählen etwa Bettelei, Ruhestörung, das Betreten fremder Scheunen oder das Anzünden von Feuer in gefährlicher Nähe zu Gebäuden. Verboten war es auch, auf den Straßen Geflügel laufen zu lassen oder sein Vieh über fremden Acker zu führen. Beim Durchblättern der Akten muss Müller ein ums andere Mal schmunzeln: "Vieles ist noch so wie heute." Beschwerden über Scherze zum ersten Mai, die angeblich immer schlimmer werden – sie flatterten auch damals schon beim Rathaus ein.

Kurz nach der Silvesternacht hört man es meistens immer noch knallen, und ab und zu schießen sogar noch Raketen in den Himmel. Viele Leute ärgern sich darüber. Ein Problem, das vor etlichen Jahrzehnten schon genauso bestand, wie der Auszug eines Schreibens zeigt, das in einem Februar in den Fünfzigerjahren an das Wolterdinger Rathaus ging:

"Wegen Abstellung eines groben Unfugs, der immer wieder von Zeit zu Zeit bis heute aufgetreten ist, wende ich mich an die hiesige Gemeindeverwaltung und bitte Herrn Bürgermeister und die Herren Gemeinderäte nicht nur in meinem Namen, sondern auch anderer Leute dringend, dafür Sorge zu wollen, dass endlich der Unfug aufhört. Schon seit eingen Tagen hat das Raketenschießen wieder angefangen, das wenige Wochen ganz verstummt war. Gestern Nachmittag haben Schulbuben vom 4. bis 7. Schuljahr, wie mir heute Morgen in der Schule gesagt wurde, Raketen geschossen und dann bei eintretender Dämmerung und in der Dunkelheit ist es erst recht wieder angegangen, da mögen Jungmänner wohl auch dabei gewesen sein."