Reflektiert die Arbeit seines Verbandes: Jürgen Kessing. Foto: dpa

Jürgen Kessing, der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes und OB von Bietigheim-Bissingen, blickt nach dem WM-Debakel nicht sonderlich hoffnungsfroh auf die Olympischen Spiele 2024.

Bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft 2023 blieb das deutsche Team erstmals überhaupt ohne Medaille. In Zukunft will der Verband einiges besser machen, zugleich weist DLV-Präsident Jürgen Kessing, im Hauptjob Oberbürgermeister von Bietigheim-Bissingen, Kritik zurück.

 

Herr Kessing, nach dem WM-Debakel haben Sie gesagt, der deutsche Sport werde seinen Tiefpunkt erst bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris erreichen. Was macht Sie so pessimistisch?

Der Ruck, den der deutsche Sport nötig hätte, ist erkennbar noch nicht erfolgt. Dazu passt die Prognose von Professor Granacher, dem Vorsitzenden der Potas-Kommission . . .

. . . dem berühmt-berüchtigten Potenzialanalysesystem des deutschen Sports.

Richtig. Laut diesem sind die Aussichten für Paris nicht sonderlich gut, die Trendwende wird noch nicht sichtbar.

Gibt es eine konkrete Zahl?

Prognostiziert werden zwischen 18 und 20 Medaillen.

2021 bei den Spielen in Tokio holte das deutsche Team noch 37 Podestplätze. Was würde ein solcher Minusrekord für den deutschen Sport bedeuten?

Das würde natürlich wehtun, weil ja viele Disziplinen betroffen wären. Zugleich ist es aber doch jetzt bereits offensichtlich, dass der Sport in unserer Gesellschaft nicht mehr den hohen Stellenwert besitzt, den er schon einmal hatte.

Mit welchen Konsequenzen?

Es gibt für junge Leute so viele Ablenkungsmöglichkeiten, dass es dem Sport an Talenten fehlt. Zudem gibt es noch immer kein adäquates Berufsbild für Trainer, weshalb viele von ihnen dorthin wechseln, wo sie glauben, für sich die besten Möglichkeiten vorzufinden. Dazu kommt, weltweit gesehen, nicht nur in der Leichtathletik eine enorme Konkurrenz. Im Speerwerfen waren unter den besten sechs WM-Athleten drei Inder und ein Pakistani, das lag früher nicht im Bereich des Möglichen. Es gibt im Sprint und im Marathon Nationen, deren 20 schnellste Leute vor unseren Besten liegen. Aber das Problem haben ja nicht nur wir Leichtathleten.

Wer noch?

Im Fußball ist die deutsche Elf zuletzt zweimal in der WM-Vorrunde gescheitert, um nur ein Beispiel zu nennen.

Und trotzdem haben Sie das Ziel, mit den Leichtathleten 2028 in Los Angeles wieder unter den besten fünf Nationen zu sein. Wie wollen Sie das schaffen?

Wir haben uns das Ziel gesetzt. Ob wir es erreichen, muss man sehen. Wir haben einige hoffnungsvolle Talente – aber die brauchen noch Zeit, um sich zu entwickeln. Wir bereiten sie mit einer neuen Trainergeneration auf die weltweite Konkurrenzsituation vor.

Nach der medaillenlosen WM im August in Budapest war vom DLV erstaunlich wenig zu hören. Wie ist die Analyse im Verband ausgefallen?

Wir haben uns schon 2022 intensiv mit der Entwicklung des Verbands befasst, Ideenwerkstätten unter Einbindung von Experten gestaltet. Ansonsten ist die Sache neben der grundsätzlichen Bewertung relativ einfach.

Klären Sie uns auf.

Einige Podiumskandidaten wie Malaika Mihambo haben wegen Verletzung oder Krankheit gefehlt. Vor Ort hat es im Speerwurf und Zehnkampf knapp nicht gereicht, dazu kam, dass im Gehen mittlerweile ein deutscher Rekord nicht mehr genügt, um eine Medaille zu holen. Es hat halt einfach nicht gepasst, was am Ende zu einem historisch schlechten Ergebnis geführt hat. In der Medizin hätte man ein Multiorganversagen diagnostiziert.

Welche Lehren zieht der DLV daraus?

Wir werden die individuelle Trainingssteuerung optimieren, uns medizinisch noch besser aufstellen, mehr in die Prophylaxe gehen, um unsere Athletinnen und Athleten gesund an den Start zu bringen. Wir werden uns für die Trainingsprozesse internationale Expertise holen, um nicht nur im eigenen Saft zu schmoren und so den jungen Trainern neue Impulse zu geben. In Deutschland fehlt eine praxisbezogene akademische Trainerausbildung. Hier arbeiten wir an neuen Kooperationen mit Universitäten, denn wir werden uns in der Trainerausbildung verbessern müssen, quantitativ und qualitativ. Wir haben uns bereits organisatorisch neu aufgestellt, werden zudem künftig in enger Zusammenarbeit mit den Landesverbänden die Vereine bei der Talentsichtung und -förderung noch mehr unterstützen. Doch wir brauchen sicher Geduld.

Das hört sich nach viel Arbeit an – zugleich belegt die deutsche Leichtathletik im Potas-Ranking der deutschen Sommersportarten Position eins. Auf dem letzten Platz liegen die Basketballer, die den WM-Titel geholt haben. Wie passt das zusammen?

Dieses Analysesystem beschreibt Potenziale und Chancen, keine Ergebnisse. Die deutsche Leichtathletik hat viele Disziplinen mit guter Perspektive, und wir verfügen über die entsprechenden Konzeptionen, deshalb stehen wir sehr gut da. Im Basketball spielt Deutschland im olympischen 3x3-Wettbewerb auch strukturell keine Rolle – und bei der WM der Männer ist, worüber wir uns sehr gefreut haben, einmal alles perfekt gelaufen.

Hauptverantwortlich für die Arbeit im DLV ist Idriss Gonschinska, der Vorstandschef. Logisch, dass auch er nach der WM in der Kritik steht. Zu Recht?

Er leitet den Verband, hält ihn strukturell zusammen, hat uns sehr gut durch die Pandemie geführt. Die Arbeit mit den Athleten machen andere, die operative Führung des Trainerteams auch. Wenn er aus unserer Sicht nicht der richtige Mann für den Job an der Spitze wäre, hätten wir ihn dort nicht platziert. Er leistet enorm viel für den Verband.

Kritisiert wird immer wieder die Führungskultur im DLV, speziell von Idriss Gonschinska. Es gibt sogar Trainer, die von einem „Klima der Angst“ sprechen.

Davon höre ich zum ersten Mal, widerspreche daher deutlich. Ich finde nicht gut, dass solche Dinge nach außen getragen werden, das ist menschlich nicht in Ordnung. Wenn es etwas zu kritisieren gibt, kann man bei uns problemlos auf die Leute zugehen und das ansprechen. Zudem gibt es Instanzen, bei denen man das auch anonym tun kann.

Führt das WM-Debakel von Budapest eigentlich dazu, dass die Leichtathletik weniger Geld zur Verfügung hat?

Derzeit bereiten wir uns auf Paris 2024 auf der Basis der bisherigen Planungen vor. Danach wird neu bewertet.

Ist die nicht ausreichende Finanzierung ein Grundproblem im deutschen Sport?

Das kann man so sehen. Die Universität, an der unser Zehnkämpfer Leo Neugebauer in den USA studiert, hat einen Etat für den Sport, der fast so hoch ist wie die gesamte Sportförderung des Bundes in Deutschland. Und das ist nur eine Universität von vielen.

Sie betonen stets, deutsche Leichtathleten würden zu den am besten kontrollierten der Welt gehören. Ist der Anti-Doping-Kampf auch ein Grund dafür, dass im WM-Medaillenspiegel 46 Nationen vor Deutschland lagen?

Bei uns rutscht kaum jemand durch, der unlauter arbeitet. Darüber bin ich froh.

Wie ist das in anderen Ländern?

Ich kann nur sagen, dass ich mir wünschen würde, dass überall so kontrolliert wird wie bei uns. Da gibt es sicherlich großen Optimierungsbedarf.

Wie viele Olympiamedaillen holen die deutschen Leichtathleten 2024 in Paris?

Jeder Platz unter den besten acht wäre ein Erfolg. Und ich habe die Hoffnung, dass die eine oder andere Medaille dabei sein wird.

Jürgen Kessing – Leichtathletik-Boss und OB

Beruf
Jürgen Kessing wurde 1957 in Worms geboren. Der Diplom-Verwaltungs- und -Betriebswirt wurde 2001 Bürgermeister von Dessau. Seit 2004 ist der SPD-Mann Oberbürgermeister von Bietigheim-Bissingen, wo er 2012 und 2020 im Amt bestätigt worden ist.

Sport
Kessing holte als Jugendlicher zweimal den Rheinland-Pfalz-Titel im Stabhochsprung (4,00 Meter). 2017 wurde er als Nachfolger von Clemens Prokop zum Präsidenten des Deutschen Leichtathletik-Verbands gewählt. Seine Amtszeit läuft bis 2025.