Am Viadukt in Bietigheim feiert Dieter Thomas Kuhn ein Festival der Liebe, spielt seine Fans in einen Glücksrausch – und kaum einer bedauert, dass er das Spiel der DFB-Elf nicht sehen kann.
Der S-Bahnabgang in Bietigheim ist ein Meer von Prilblumen. Blumige Hippiekleider, kreischige Hawaiihemden, Sonnenblumenkränze, rosa getönte Sonnenbrillen. Ganz Hartgesottene schwitzen unter Kunsthaarperücken. Dazwischen: Deutschlandtrikots und Haarschmuck in Schwarz-Rot-Gold. Schlechtes Timing: Bei der Fußball-EM spielt in Dortmund die DFB-Elf gegen Dänemark, am Viadukt in Bietigheim tritt am Samstagabend Dieter Thomas Kuhn auf. Zum „Festival der Liebe“.
Als pünktlich um 20.06 Uhr „Musik ist Trumpf“ über die Lautsprecher kommt und Dieter Thomas Kuhn auf der Bühne „Sag mir quando“ anstimmt, stehen viele seiner Fans noch in den Schlangen an den Getränkeständen – und sind sauer, dass es am Zapfhahn so langsam voran geht. Ganz wichtig, bei diesen Temperaturen hydriert zu bleiben.
Glitzeranzug mit Peace-Zeichen
Da steht er, im silbernen Glitzeranzug mit Peace-Zeichen auf dem Rücken, ein Bäuchlein unterm Brusthaartoupet spannt das weiße Rüschenhemd, die blonde Fönwelle sitzt. DTK, wie Insider den Tübinger Schlagerbarden nennen, thematisiert gleich den Elefanten im Raum: „Ich weiß nicht, ob Ihr’s wisst: Da läuft so ein Fußballspiel...“ Vor allem die Männer seufzen wissend auf. Kuhn geht’s so ähnlich: „Ich konnte ja nicht wissen, dass da ein Spiel kommt, das mich interessiert.“ Aber sei’s drum.
Selig tanzen 15.000 Fans zu „ Griechischer Wein“ einen Sirtaki. Dieses Konzert hätte goldenes Abendlicht verdient, stattdessen steht die Luft bei 30 Grad unter einem betongrauen Himmel. Bei „Am Tag, als Conny Kramer starb“ gibt’s Anfangsprobleme, Kuhn vermutet, sein Gitarrist Howie könnte ein Tütchen zu viel geraucht haben. Die Kapelle spielt “Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“, die Menschen tanzen trotz der Hitze. Auch bei „Ich war noch niemals in New York“ halten Kuhn und seine Band das Tempo hoch. Seifenblasen schweben durch die Luft, über die Köpfe von schwitzenden, glücklichen Menschen hinweg, Sonnenblumen wedeln im Takt. „Ging nie durch San Francisco in verschissnen Jeans“ - haben wir das gerade richtig gehört?
„Wann wird’s mal wieder richtig Sommer?“ mit Rudi-Carrell-Schmelz, Howie intoniert „Der Junge mit der Mundharmonika“. Der Gitarrist mit dem Oberlippenbart hat nicht nur fast so eine große Fangemeinde wie der Chef persönlich, er kriegt auch die schöneren Schlüpfer zugeworfen. Als auf dem Screen hinter der Bühne eine Lufthansamaschine auftaucht, wissen alle, was kommt: „Über den Wolken“. Das Publikum singt solo, DTK genießt mit ausgebreiteten Armen: „Ich hab’ Gänsehaut!“
Zu „Tanze Samba mit mir“ entledigt sich Kuhn seines Glitzerjacketts, es ist ja auch so heiß wie auf einem Vulkan am Enzufer. Vor der Bühne packen Pärchen aus, was sie im Tanzkurs gelernt haben.
Manche trauern vielleicht immer noch der familiären Atmosphäre im Kuhn’schen Wohnzimmer, dem Killesberg, hinterher – doch DTK und vor allem seine maximal enthusiastischen Fans sind schlicht und einfach zu laut für die Freilichtbühne mit ihren strengen Dezibelgrenzen. Und hier am Viadukt ist es auch ganz nett.
Drei Frauen in identischen Blumenröcken schunkeln zu „Die kleine Kneipe“, als um 21 Uhr in Dortmund angepfiffen wird. „An dieser Stelle“, sagt Kuhn, „hat es Tradition, dass wir einen Schluck zu uns nehmen.“ Die Tochter des Schlagerbarden reicht Ramazotti („Sie wollte nach dem Abi was Sinnvolles machen.“) und die Menge intoniert „Ein Prosit der Gemütlichkeit“. DTK fragt kokett: „Will man uns überhaupt noch haben?“, Fishing for Compliments, klar will man.
„1:0 für Deutschland“, verkündet Dieter Thomas Kuhn kurz darauf, nur um „Die Zeit macht nur vor dem Teufel halt“ gleich wieder zu unterbrechen: Foul, das Tor zählt nicht. DTK singt weiter in sein goldenes Mikro – „Zieh dich nicht aus, amore mio“, „Du hattest keine Tränen mehr“ – und sammelt dabei pinke BHs ein und schwarze Spitzenhöschen. Leise Wokeness-Kritik kann sich der beinahe 60-Jährige nicht immer verkneifen: „Das darf man ja heute nicht mehr sagen“, bemerkt Kuhn gleich mehrmals, sagt’s dann aber doch. Man ist ja unter sich, hier nimmt man vieles nicht so ernst.
Maximale Euphorie
„Hossa“ schreit die Menge bei „Fiesta Mexicana“, bei der funkigen Version von „Wunder gibt es immer wieder“ zündet ein Bühnenfeuerwerk und alle Arme sind in der Luft. Zum E-Gitarren-Intro von „Es war Sommer“ singen besonders begeisterte Damen „Howie, Howie, Howie“. Maximale Euphorie, Menschen liegen sich in den Armen. Langsam wird es dunkel in Bietigheim, geregnet hat es immer noch nicht, während in Dortmund die Partie wegen eines Unwetters unterbrochen werden muss.
Die Band spielt jetzt „Fremde oder Freunde“ und Dieter Thomas Kuhn nimmt ein Bad in der Menge. Selig lächelnde Frauen, die ihr Glück kaum fassen können, strahlen ihr Idol an, eine rupft ein bisschen vom falschen Brusthaar ab. Eine Braut, die ihren Junggesellinnenabschied feiert, bekommt ein Bussi und die Frage: „Hast du dir das gut überlegt mit dem Heiraten?“
Um 22.15 Uhr verlassen Kuhn und Kapelle die Bühne. Die Menge stimmt „Oh, wie ist da schön“ an, um DTK wieder auf die Bühne zu singen. Es gelingt. Mit einem schneeweißen Handtuch um die Schultern kommt er zurück und gibt eine ausgedehnte Zugabe: „Anita“, dann der Klassiker: „Ti amo“. Kuhn hält die Bürgermeisterin von Ingersheim (im Blumenminikleid) im Arm, die abgelöst wird von anderen Hardcore-DTK-Fans. Als nächstes „Liebe ohne Leiden“ – düdüdüpdüdum singt das Publikum beseelt. Bei „Merci Chérie“ setzt sich Dieter Thomas Kuhn an den Flügel, in dem beim großen Finale plötzlich ein Feuer aufflammt. Eine letzte Kusshand, nur um gleich in einem Federmantel wieder aufzutauchen – DTK im Flitterregen. Ganz großes Schlager-Kino.
Zugfahrer drückt freundlich auf die Hupe
War’s das? Nein, immer noch nicht. Kuhn und seine Kapelle kehren noch ein zweites Mal zurück – diesmal in Trainingsanzügen im Retrodesign. „Howie, die können noch“, ruft DTK seinem Gitarristen zu. Also dann noch „Butterfly“. Und als wäre die Stimmung zu ihm hochgeschwappt, drückt ein Güterzugfahrer freundlich auf die Hupe, als er übers Viadukt fährt. „Dieter Thomas Kuhn“-Gesänge ertönen und einen hat er noch. „Tränen lügen nicht“, zu dem er sich theatralisch mit einem BH das Wasser aus den Augen wischt. „Die Sprüche bringt er auch schon seit 20 Jahren“, sagt eine Frau, als Kuhn von seinem kalten, einsamen Hotelbett fabuliert, in das er nun bald schlüpfen muss.
„Wollen wir zusammen alt werden?“, fragt der bald 60-Jährige zwischendurch. Am Viadukt gibt es an diesem Abend wohl keinen, der dieses Angebot ausschlagen würde.