Tübingen ist berühmt für seine Universität, nicht jedoch für seinen Wein. Sabine Koch, eine Späteinsteigerin unter den württembergischen Winzerinnen, will das ändern.
Ein Donnerstag im Herbst. Sabine Koch steht auf einem Weg, der in halber Höhe durch die Steillagen führt, zeigt mit ausgestrecktem Arm in Richtung Morgensonne und sagt: „Wir gehen jetzt zum Weißburgunder.“ Ein Dutzend Erntehelfer folgt brav. Auf ihren Gesichtern zeigt sich Erleichterung, dass sie nicht noch höher den Hang hinaufmüssen. Aber wie erkennt man bitte die Trauben der Sorte Weißburgunder? Und wo genau hängen sie? Die Winzerin zeigt auf einen üppigen Busch roter Rosen. Dort beginnen die Rebzeilen, an denen an diesem Arbeitstag gelesen wird.
Die Aussicht ist vergnügungssteuerpflichtig: Am Fuß der Weinberge glänzen die grünen Ziegel des Kirchturms von Unterjesingen, das ist ein Teilort von Tübingen. Im Talgrund markiert eine Reihe hoher Pappeln den Lauf des Flüsschens Ammer. Dahinter erhebt sich die Wurmlinger Kapelle auf ihrem Hügel in den wolkenlosen Himmel, den Hintergrund bilden die Berge der Schwäbischen Alb mit der Burg Hohenzollern. Bevor das Bild zu romantisch wird, sagt einer der Erntehelfer trocken: „Am Sonntag haben wir bei Regen gelesen.“
Die Parzellen werden von Generation zu Generation weitergegeben
Die Winzerin Sabine Koch ist 63 Jahre alt und eine Späteinsteigerin. An der ETH Zürich promovierte sie in Umwelt-und Naturwissenschaften. 2002 kam sie nach Unterjesingen, weil ihr Ehemann Stefan Haderlein an der Universität Tübingen eine Professur für Umweltchemie erhielt. Jeden Tag sah Koch die Weinberge, die sich malerisch an der Sonnenhalde über dem Dorf erheben. Die kleinen Parzellen sind fest in der Hand der ortsansässigen Familien, werden von Generation zu Generation vererbt. Die Zugezogene beklagte sich: „Jeder hat einen Weinberg, nur wir nicht.“
Jeder schafft für sich allein
Um das zu ändern, trat sie dem Obst- und Weinbauverein bei. Das führte nicht auf Anhieb zum gewünschten Erfolg. Erst nach zwei Jahren trat einer, dem die Arbeit zu beschwerlich wurde, seinen Wingert an sie ab.
Tübingen ist berühmt für seine Universität, nicht jedoch für seinen Wein. Woran liegt das? Unterjesingen ist das größte Anbaugebiet im Landkreis Tübingen. Hier schlossen sich die Winzer nie zu einer Genossenschaft zusammen. Jeder bewirtschaftet sein Stückle, 45 Unterjesinger Weinbauern teilen sich 15 Hektar Rebfläche. Jeder schafft für sich allein im eigenen Keller. Seit Jahrhunderten hat der Vater die Methoden der Weinerzeugung an den Sohn weitergegeben, das gewonnene Getränk diente in erster Linie dem Hausgebrauch. Die alte Kelter aus dem 18. Jahrhundert ist längst ein Museum, erst dieses Jahr hat der Weinbauverein eine Gemeinschaftskelter gebaut.
Der Weinbauverein lud Referenten von den Weinbauschulen Freiburg und Weinsberg ein. „In den letzten zwanzig Jahren konnten wir die Qualität enorm steigern“, sagt Heinz Giringer, der Vorstand des Weinbauvereins. Er selbst hat sich einer neuen Initiative in Baden-Württemberg angeschlossen: hat neugezüchtete, pilzwiderstandsfähige Rebstöcke gepflanzt, die mit wenig Spritzmitteln auskommen. Seine vollmundige Rotweincuvée darf er unter dem Namen „Tamino“ vermarkten. Für den überregionalen Verkauf ist die Menge der Unterjesinger Weine freilich zu klein. Giringer sagt: „Die 130 000 Flaschen, die wir jährlich im Ammertal erzeugen, werden fast alle im Raum Tübingen getrunken.“
Sie setzt auf ökologischen Weinbau
Sabine Koch gehört zu einer neuen Generation, die sich in ihrem Schaffen an den guten Winzern renommierter Anbaugebiete orientiert. Sie ist schlank und sehnig wie ein Model. Mit geschmeidiger Energie bewegt sie sich am Steilhang, als ob er ihr natürliches Umfeld wäre. Von Anfang an setzte sie auf ökologischen Weinbau. Inzwischen bewirtschaftet sie drei Hektar.
In Unterjesingen gab es nie eine Rebflurbereinigung, die Weinberge haben ihren naturnahen Charakter nicht verloren. An den Trockenmauern sorgen Lavendel und Muskatellersalbei für Artenvielfalt, zwischen den Parzellen wachsen Hagebutten und Brombeeren, Kirsch- und Feigenbäume spenden ein bisschen Schatten. Ein Milan zieht in majestätischer Ruhe seine Kreise, und die Winzerin zeigt ein paar hundert Meter weiter im Osten ihre ganz spezielle Parzelle. „Das war das Wildsaugebüsch“, sagt sie, „völlig zugewachsen, die alten Terrassenmauern waren teilweise verfallen.“ In diesem Gestrüpp überwinterten Wildschweine, an sonnigen Tagen kamen sie in die Weinberge und bewegten sich dort auf wenig schonende Art. Als diese Fläche zum Verkauf stand, winkte sie ab. Ihr ältester Sohn Lukas war dagegen begeistert.
Strikte Aufgabenverteilung
Der Weinbau hat sich in der Familie zu einer gemeinsamen Angelegenheit entwickelt. Sabine Koch ist für die Rebstöcke verantwortlich, die das ganze Jahr gepflegt werden müssen. Stefan Haderlein hat nach seinen eigenen Worten „Ehrgeiz entwickelt“, als Chemiker steuert er penibel die Abläufe im Keller. Sohn Lukas kümmert sich um die Maschinen und die Vermarktung. Im Hauptberuf leitet er in Tübingen das Ordnungsamt.
Gemeinsam legte die Winzerfamilie im Wildsaugebüsch einen Weinberg neuer Art an. Die Rebzeilen verlaufen nicht wie üblich von oben nach unten, sondern horizontal. Niedrige Mäuerchen bilden kleine Terrassen am Steilhang. So wurden früher in manchen Regionen die Weinberge angelegt, im Piemont und in der Toskana hat sich diese Tradition gehalten. Sabine Koch beschreibt die Vorteile: „Man steht bei der Arbeit nicht im Steilen, sondern waagerecht. Man kann die Querterrassen besser mit Maschinen befahren. Die Bodenerosion ist geringer, und die Rebzeilen geben sich gegenseitig Schatten.“
Kochs Experiment könnte Schule machen. Manfred Stoll, Professor an der Hochschule für Weinbau in Geisenheim im Rheingau, sieht in den Querterrassen ein Mittel der Flurbereicherung, das den Winzern hilft, mit steigenden Temperaturen und Trockenheit in den Steillagen fertig zu werden.
Die Ernte kann früh beendet werden
Bevor der Querweinberg in Unterjesingen angelegt werden konnte, waren Verhandlungen mit dem Naturschutz nötig. Der fürchtete um das Habitat der Zauneidechsen. Man einigte sich auf Trockenmauern als Ausgleichsmaßnahme. Und der Bagger durfte erst nach der Winterruhe im April anrücken. Vor drei Jahren wurden Riesling und Spätburgunder gepflanzt, dieses Jahr steht die erste Ernte an.
Der Klimawandel nützt den Tübinger Winzern. Sabine Koch saß für die Grünen im Gemeinderat. Sie wohnt mit ihrer Familie in einem Haus, das nach ökologischen Standards gebaut und isoliert wurde. Aber im Weinberg profitiert sie von der Erderwärmung: „Bisher lag Tübingen am Rand der Zone, in der Weinbau möglich ist. Jetzt haben wir ein Klima wie im Rheingau. Und wir können früher ernten. Manchmal sind wir schon Ende September fertig – die alten Winzer in Unterjesingen haben manchmal im November die letzten Trauben gelesen.“
Das Kelterhaus hat 200 000 Euro gekostet
Nach zwei Stunden stapelt Stefan Haderlein die Plastikkisten mit den gelesenen Trauben auf einer Transportraupe, fährt sie den Hang hoch zum Querweg und verstaut sie in einem Anhänger unter einer Plane. Die ist wichtig, weil die weißen Trauben kühl bleiben sollen, und die Sonne brennt jetzt mit Macht in den Steilhang.
Als der Anhänger voll ist, fährt er die Ernte hinunter ins Kelterhaus. Dieses ist sein ganzer Stolz, für 200 000 Euro hat er diese Halle ans Wohnhaus angebaut. Beim Pressen achtet er darauf, dass der Druck nicht über 0,5 Bar steigt, weil sonst zu viel bittere Gerbstoffe in den Wein kommen würden. Anschließend wird der Most in einen der großen Edelstahltanks gepumpt.
„Wir haben hier die gleichen geologischen Verhältnisse wie im Remstal“, erklärt Haderlein. „Dort sind auch die Vorbilder, an denen wir uns orientieren.“ Er will, dass die Weine aus dem Tübinger Ammertal ähnlich gut werden wie die der dortigen Vorzeigewinzer. Aber im Gegensatz zu Aldinger oder Ellwanger will er nicht Mitglied im elitären Verband der Prädikatsweingüter werden. „Dafür sind wir zu klein“, sagt er lapidar. Er ist stolz darauf, als erstes Weingut im Oberen Neckartal im renommierten Eichelmann-Weinführer empfohlen zu werden.
Die Vermarktung erfolgt lokal
Der Spätburgunder aus Unterjesingen bekommt 88 von 100 Punkten. „Unser Ziel ist, über 90 zu kommen“, sagt Sabine Koch. Die Vermarktung ihrer Weine bleibt im Tübinger Rahmen. Den in der Flasche vergorenen Winzersekt und alle Sorten von Kerner bis Sauvignac verkauft sie an der Haustür. Darüber hinaus beliefert sie ein paar ausgewählte Weinläden und Restaurants in Tübingen. Der Weinbau bleibt Nebenerwerb, wird nach Art der Stadt akademisch querfinanziert durch die Professur von Stefan Haderlein. Seine Frau sagt nüchtern: „Wer hier von seinen Weinbergen leben will, muss sehr bescheiden sein. Und es darf keine Missernte geben.“
Mittlerweile ist in den neu angelegten Kleinterrassen die erste Ernte gelesen. „Der Spätburgunder war schwierig, aber der Riesling wird gut“, urteilt Sabine Koch. Er soll 2026 oder 2027 in den Verkauf kommen. Sie überlegt, ob sie auf dem Etikett unter ihrem Markenzeichen, einer Weinbergschnecke mit goldener Krone auf dem Häuschen, die Lage eigens ausweisen soll. Einen Arbeitstitel hat sie schon: Steintreppe.