Von ihrer Wohnung aus in die Welt – seit 2016 gehen die Ettlinger Marmeladenoma und ihr Enkel Janik jeden Samstag auf Sendung. Foto: picture alliance / Uli Deck/dpa/Uli Deck

Eine Großmutter aus Ettlingen liest im Internet Märchen vor, und Hunderttausende hören zu. Wer ist die Marmeladenoma? Warum spricht sie so viele junge Menschen an?

Wenn die böse Stiefmutter besonders garstig war, floh das Mädchen Helga auf seine Märcheninsel auf dem Dachboden des Elternhauses. Stemmte den Deckel der schweren Eichentruhe auf, schmiegte sich in das weiche Nest aus Stoffresten wie in eine Umarmung. Las und träumte sich in eine Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat. War Dornröschen, unerreichbar hinter Rosen. War Rapunzel, traurig-schön, geschützt in seinem Turm. Oder Schneewittchen, das im gläsernen Sarg über alle Unbill hinwegschlummerte. „Keiner wusste, wo ich war. Wenn ich genug Kraft geschöpft hatte, tauchte ich unvermittelt wieder im Erdgeschoss auf.“

 

Mehr als 80 Jahre später hat sich Helga Josefa wieder eine Märcheninsel erschaffen. Statt in einer Eichentruhe schlägt sie ihr Buch an einem kleinen Tisch im ehemaligen Kinderzimmer des Sohnes in ihrer Ettlinger Wohnung auf. Jeden Samstag um 20 Uhr, eine Kerze brennt dazu. Ihr gegenüber, in der Nische unter dem Hochbett mit den vielen Kuscheltieren, sitzt Enkel Janik mit Kamera, zwei Scheinwerfern und Bildschirmen. Er überträgt die Märchenstunden der badischen Großmutter in Echtzeit auf die Videoplattform Twitch. Und Tausende sehen zu.

200 000 Abonnenten auf Youtube

Internetphänomen ist das Wort, mit dem Erfolge wie jener der 92-jährigen Marmeladenoma gern beschrieben werden – und in dem das Erstaunen darüber gleich mitschwingt. Seit Großmutter und Enkel vor sieben Jahren unter diesem Pseudonym starteten, wächst die Fan-Gemeinde. 80 000 Menschen folgen der Vorleserin auf Twitch, 200 000 auf Youtube. Sie hält Lesungen, macht in Sendungen wie „Frag doch mal die Maus“ mit. Als ihr Barbara Schöneberger 2017 auf der Bühne der Düsseldorfer 02-Arena den Webvideopreis überreichte, standen 4000 Zuschauer auf.

Zum Gespräch setzt sich die Marmeladenoma, die in der Öffentlichkeit nur so oder bei ihrem Vornamen genannt werden will, an ihren Lesetisch. Sie schaltet die grünglasige Art-déco-Lampe ein und lächelt heimelig. An ihrer lilafarbenen Samtbluse steckt die goldene Erbse, die ihr das Europäische Zentrum für Märchenkultur verliehen hat. Die Wand neben ihr ist mit Bildern, Briefen, Postkarten bedeckt. „Wir lieben die Marmeladenoma“ – „Schön, dass es dich gibt“, steht dort in Grundschulschrift. Andere haben Katzenfotos geschickt, Mandalas ausgemalt oder die Oma und Janik gezeichnet. „Für manche junge Leute, die mir schreiben, ist es der erste handschriftliche Brief.“

Einem „armen Büble“ schickt sie Bücher

Hunderte Zuschriften stapeln sich in Kisten, von Kindern und Erwachsenen. Jeden Tag beantwortet sie fünf. Einigen schreibt sie über Jahre, wie der blinden jungen Frau, die ihr selbst gewebte Stoffe schickt. Oder dem „armen Büble“, dem die Marmeladenoma jeden Monat ein Buch und Kekse sendet, weil seine Familie kein Geld dafür hat.

Die Menschen schreiben ihr, welche wohlige Ruheinsel die Märchenstunde im wilden, von Krisen aufgewühlten Alltagsozean ist. Was für ein tröstlicher Anachronismus im klickschnellen weltweiten Netz. Für manche sind die dreistündigen Sitzungen eine melancholische Erinnerung an die eigene Großmutter. Mit den über alle Zeitläufte hinweg tradierten Geschichten tauchen sie ein ins kollektive Gedächtnis. „Es war einmal.“ Nicht wenige erwarten sich aber auch Lebenshilfe. „Jugendliche schreiben mir über Mobbing. Viele haben Ängste oder Depressionen.“ Was rät sie ihnen? Unter anderem, was der innig geliebte Vater sagte, wenn es ihr als Kind nicht gut ging: „Du weißt doch, wer du bist!“ Auch während des Livestreams auf Twitch stellen die Menschen im Chat große Fragen: „Wie wird man glücklich?“ – Wie überwindet man schwere Zeiten?“ – „Würdest du alles noch einmal so machen?“ – „Was ist dein ultimativer Lebensrat?“ In jeder Märchenstunde erzählt die Marmeladenoma ihren Zuhörern deshalb Episoden aus ihrer Biografie. 1931 wird Helga Josefa in Karlsruhe geboren. Sie ist das zweitjüngste von acht Kindern. Die ersten Jahre in ihrer Erinnerung: ein Reihenhaus-Idyll im Stadtteil Grünwinkel. Der Vater ist Kunstmaler, nimmt die Tochter auf dem Gepäckträger mit, wenn er seine Auftragsarbeiten zu Kunden ausfährt. „Schau, Helga, wie sich die Wasserpflanzen in der Strömung wiegen.“ Die Mutter näht, zieht Gemüse und Hühner groß. Samstagabend wird zu zehnt musiziert, gespielt, diskutiert. Die Zweitjüngste ist ein Kind voller Träumereien und heller Geschichten. In den Zweigen der Trauerweiden erkennt sie das Haar von Wassernixen, in den Wolken, die über die Albwiesen ziehen, König Drosselbart und Sterntaler. Das Nachthemd als Prinzessinnenhaar um den Kopf geschlungen, wandert sie durchs Haus. Gans Tusnelda ist ihre Begleiterin. Der Vater fördert den kreativen Kopf. Jeden Abend liest er ihr und dem jüngsten Brüderchen Hermännle vor.

Die Mutter stirbt mit nur 42 Jahren

In Fantasiewelten aufgehen zu können wird für das Kind zur Überlebensstrategie und Resilienz-Quelle, als die Mutter mit 42 Jahren stirbt. Die neue Frau des Vaters kann mit der versponnenen Helga nichts anfangen, lässt sie Socken stopfen und Öfen putzen. „Du gehörsch nach Illenau, in die Irrenanstalt!“, schreit sie, wenn sie Gedichte rezitiert. Das Kind flüchtet sich dann in die Eichentruhe mit den Stoffresten der verstorbenen Mutter und denkt: „Warte nur, ich weiß, was mit bösen Stiefmüttern passiert!“

Zwei Brüder fallen im Krieg

Die Geschichten aus uralten Zeiten – sie sind auch ein Zufluchtsort, als der Krieg beginnt, in den Bunker-Nächten, in der Lager-Einsamkeit der Kinderlandverschickung im Schwarzwald, wo sie auf Höfen schuftet, in den Hungertagen der bitterarmen Nachkriegsjahre. Ihre Brüder Alfred und Lothar fallen im Krieg, die Schwester Friedl wird schwer krank. Der Vater versinkt in Gram. Es war ihr, als hätte „Das kalte Herz“ aus Wilhelm Hauffs Märchen die Welt erstarren lassen. So beschreibt sie es im Rückblick.

Danach aber beginnt der Fortsetzung ihrer Aschenputtel-Geschichte: Sie heiratet Helmut, kriegsversehrt wie sie, der ihr zur Gitarre Lieder vorsingt. Sie bekommen vier Kinder, die Wirtschaftswunderjahre meinen es gut mit ihnen. Im Opel Kapitän geht es zum Oktoberfest, nach Wien und Jesolo. Helga trägt ein Modellkostüm wie Audrey Hepburn. In der Wohnung stehen Nierentisch und Gummibaum, neben den Märchenbüchern jetzt Romane von Hermann Hesse, Heinrich Böll, den Brontë-Schwestern. „Das Leben lässt sich nur vorwärts leben“, sagt die Marmeladenoma.

Das Gute siegt über das Böse

Wenn man so will, scheinen in diesen Lebenserinnerungen der alten Frau wie in den Märchen, die sie vorliest, dieselben Archetypen auf, dieselben Botschaften und universellen Sehnsüchte: Das Gute überwindet das Böse. Das Leben kann wieder schön werden, wenn man es zulässt. Und vielleicht liegt in dieser Verschränkung das eigentliche Geheimnis des Marmeladenoma-Erfolgs.

Buch und Auftritte der Marmeladenoma

Buch
Zusammen mit ihrem Sohn Paul Frey und ihrem Enkel Janik hat die Marmeladenoma ein Buch über ihr Leben geschrieben: „Mein Leben ist (k)ein Märchen – Lebensweisheiten der erfolgreichen Ü90-Internet-Oma“ (Gräfe und Unzer, 17,99 Euro). Am 22. Oktober, 14.30 Uhr, tritt sie auf der Frankfurter Buchmesse am Stand ihres Verlages auf.

Auftritt
 Erleben kann man die Marmeladenoma am 14. Oktober im Ettlinger Schloss. Ein Bündnis, unter anderem aus Landesfamilienrat, Landesseniorenrat, Mütterforum und dem Sozialministerium, lädt zum ersten baden-württembergischen Großelterntag ein. Von 14 bis 16.30 Uhr gibt es Vorträge und eine Diskussionsrunde zum Thema „Generationen im Plus – warum Großeltern so wichtig sind“. Um 15 Uhr wird die Marmeladenoma interviewt. Infos unter: www.muetterforum.de/grosselterntag-bw