Felicia Ludwig in ihrem Atelier für Confiserie in Zürich Foto: Joey Timmann

Felicia Ludwig fing an als Tellerwäscherin in Schwäbisch Hall. Heute hat sie ihr eigenes Café am Zürichsee und ist Schweizer Pâtissière des Jahres.

Oh je. Die sind arg verführerisch. Wie soll man da widerstehen. Wie sich für nur ein Törtchen entscheiden? Und die anderen einfach vergessen? . . . Hilfe . . . Vielleicht ja diese betörend schöne Lemontartelette mit Eischneegipfeln. Aber vor diesem Rhabarber-Bällchen mit Joghurt-Yuzu-Füllung könnte man auch glatt in die Knie gehen. Wie cremig die Creme von dem Blueberry-Cheesecake aussieht, die muss wahnsinnig gut schmecken. Oder diese Schwarzwälder Kirsch als Praliné mit glasiertem Schokosaum, obendrauf die aus Mousse geformte Schattenmorelle, täuschend echt. Das Pekannuss-Rüblitörtchen mit seiner konspirativen Anziehungskraft. Wie das Mango-Passionsfrucht-Stückchen neckisch seine Kokosflügelchen streckt.

 

Oder dieses Pistachio. Was da wohl so drin ist? Felicia Ludwig erzählt von einer mit Eigelb gebundenen Calamansi-Creme. Von Himbeergelee. Dass da irgendetwas mit ein bisschen Butter emulgiert und mit Pistazienmousse gefüllt wird. Von Pistazienkrokant, weißer Schokolade, Limetten. Also, das Pistachio bitte . . . Die erste Gabelspitze . . . Mmm . . . Hilfe . . .

Das FL Atelier für Confiserie liegt im Züricher Quartier Seefeld. Ein sehr teures Pflaster. 200 Meter die Straße runter und man ist schon auf der Seepromenade. „Eigentlich bin ich nie ein Stadtmensch gewesen. Aber dass ich hier mein eigenes Café haben darf, ist wie im Märchen“ sagt Felicia Ludwig, 41.

„Das g’hört sich für än guete Nachbr, dass er au amal öppis mitilft.“ – „Du muesch zuegä, dass i nöd übertriebä ha, gäll?“ Am frühen Vormittag unterhalten sich die ersten Gäste bei einer Aprikosen-Lemon-Tarte für 12,50 Franken und einem Morgentau-Tee für 7,50 über ihre kleinen Beschwernisse. „So früh am Morgä mues i das no nig ha, und dänn no d’Grosselterä, aso dänn hani würkli gnuäg.“

Feli muss für ihre jüngeren Geschwister da sein

Feli, wie sie hier alle nennen, ist in Drăguș zur Welt gekommen, einem Dorf in Transsilvanien. Als der Vater stirbt, ist sie erst sieben. Die Mutter arbeitet als Schweißerin in einer Fabrik, um die Familie über Wasser zu halten. Feli muss früh für die drei jüngeren Geschwister da sein. Morgens besucht sie die siebte Klasse, nach der Schule kocht, putzt, wäscht sie daheim. „Waschmaschine hatten wir keine in Rumänien.“ Kein Handy, kein Fernseher.

Nachmittags arbeitet sie auf den Feldern, um sich Busfahrkarte, Bücher, Hefte und gute Kleider für das Gymnasium kaufen zu können. Sie macht Abitur, besucht außerdem noch extra Informatikkurse. „Es war sehr hart. Aber ich wollte immer etwas erreichen, ich wolle immer die Beste sein.“

Sie kocht und backt für ihr Leben gern. Nicht nur, weil sie es muss. Sie probiert Mamas Rezepte von A bis Z. „Sonntags sind die Nachbarn zu mir gekommen, weil sie wussten: Feli hat was gebacken.“ Auch ihre Kuchen sollen perfekt sein. Manchmal stellt sie sich vor, wie das wäre: ein eigenes Café.

In Rumänien lernt sie einen Siebenbürger Sachsen kennen. Mit 21 heiratet sie und zieht mit ihm nach Schwäbisch Hall. Zum ersten Mal weg von zu Hause – und sehr einsam. Eigentlich bleibt sie es die ganzen Jahre. Es gibt nur den Haushalt und kleine Jobs. Sie zerreißt sich schier, um alle Erwartungen zu erfüllen. „Im Nachhinein muss ich sagen: Es war kein so schönes Leben. Irgendwann sah ich in nichts mehr einen Sinn. Ich war an der Grenze, dass irgendwas mit mir passiert. Ich konnte nicht mehr.“

Die Trennung. „Ich bin weiter meinen Weg gegangen“, sagt Felicia Ludwig heute. Sie findet Arbeit in einer Haller Metallfabrik. Nebenbei putzt sie Hotelzimmer im Landhaus Rössle, einem gehobenen Familienbetrieb. Wäscht Teller und Töpfe. Sie kauft sich Rezeptbücher, zaubert daheim Dobos-Torten, Bienenstiche, Windbeutel, Frankfurter Kränze. An Wochenenden bringt sie ihre süßen Backwerke mit in die Gaststube, sie hat ja sonst keinen zum Kosten. Die Kollegen sind begeistert. „Back doch auch für unsere Gäste“, meint der Seniorchef Ernst Kunz.

Er überredet sie, eine Ausbildung zur Köchin zu machen. Aber sie kann fast kein Deutsch. Mit ihrem Mann hat sie nur Rumänisch gesprochen, und bei ein paar Wortfetzen über den Nachbarszaun, bei der Hausarbeit oder vor dem Fernseher lernt man nicht viel. „Eigentlich habe ich erst bei Familie Kunz angefangen zu reden.“ Sie macht die Lehre im Rössle, der Juniorchef meldet sie an der Berufsschule in Crailsheim an. „Da saß ich mit meinen 27 Jahren auf der Schulbank, verstand nichts und dachte nur: Mein Gott, was mache ich hier. Das schaffe ich nie.“

470 Euro Lehrgeld im Monat sind zu wenig, auch wenn man nebenher noch putzen geht und sieben Tage die Woche arbeitet. „Ich war so naiv damals“, sagt Felicia Ludwig. Die Rössle-Familie unterstützt sie. Die Vermieterin kommt ihr auch entgegen. „Felicia“, sagt sie, „du wohnst jetzt hier, und wenn du fertig bist mit der Schule und es dir besser geht, zahlst du die Miete.“

Das erste Lehrjahr bringt Felicia Ludwig mit einem Notenschnitt von 3,2 hinter sich. Irgendwie geht es. „Ich kann es heute gar nicht glauben, wie ich das gemacht habe. Ich habe einfach immer alles auswendig gelernt“, erzählt sie. Im zweiten und dritten Lehrjahr ist sie schon Klassenbeste. Sie schließt die Ausbildung mit 1,2 ab – und mit 20 000 Euro Schulden. Der Küchenchef vom Rössle vermittelt ihr eine Stelle in der Schweiz. Da kann sie gut verdienen, so ihr Plan, und das Geld schneller zurückzahlen.

Eine Saison in Sankt Moritz

Sankt Moritz also. Ein Hotel-Restaurant mit einem „Michelin“-Stern und 16 „Gault-Millau“-Punkten. „Ein Wahnsinnsschritt.“ Aber sie hat nie das Gefühl, zum Team zu gehören. Nach einer Saison geht sie. Eigentlich wollte sie in den Bergen Skifahren lernen. Aber wann sich die Zeit stehlen?

Nächste Station: Ascona am Lago Maggiore. Wieder ein Stern und 16 Punkte. Zum ersten Mal Praxis in der Hohen Schule. Sie muss jeden Tag eigenständig ein neues Dessert kreieren. In den Pausen geht sie mit Badetuch und Rezeptbüchern an den Strand, um sich Impulse zu holen – „weil von nichts kommt ja nichts“. Wenn sie mal freihat, steht sie auch in der Küche, um ihre Ideen auszuprobieren.

Die nächsten Stationen sind alle in Zürich, alles kulinarische Hochkaräter. Das Clouds: „Da habe ich sehr, sehr viel gelernt.“ Das Mesa: „Da ist meine Kreativität richtig erwacht.“ Das Gustav: „Da hat sich meine Welt richtig geöffnet. Manche Gäste sind nur wegen der Desserts gekommen.“ Im Ornellaia vermutet sie, von einem Gourmet-Tester unter die Lupe genommen zu werden. Der Gast ist allein und bestellt ein Menü nur mit fünf Desserts – sehr ungewöhnlich. Er notiert auch ständig etwas in seinen Schreibblock. Kurz darauf kommt er noch mal. Wieder nur Desserts. „Da habe ich mir so meine Gedanken gemacht.“

Dann die Einladung zur Verleihung der „Gault-Millau“-Auszeichnungen im Walis. Was könnte es anderes bedeuten, als Schweizer Pâtissière des Jahres 2022 zu sein? Aber soll sie sich wirklich schon freuen?

„Es war unglaublich, dann da oben auf der Bühne zu stehen“, erzählt sie. „Wenn man bedenkt, woher ich komme. Das war alles, was ich in meinem Job erreichen konnte. Ich dachte, mein Gott, ich schwimme, es ist nur ein Traum.“ Und an ihren Vater denkt sie auch. Wie stolz er wäre, wenn er sie jetzt sehen würde.

Ich bin nie zufrieden, ich will immer mehr, ich krieg nie genug“, sagt Felicia Ludwig. „Ich denke immer, ich könnte besser sein. Wenn du selbstzufrieden bist, bringt dich ja nichts mehr weiter.“ Als sie den Preis hat, kommt ihr kurz in den Sinn, nun vielleicht einen Sponsor oder Investor für ein eigenes Café zu finden. Sie vergisst es gleich wieder. Bei den Mietpreisen? Dann öffnet sich doch ein Türchen. Und sie entscheidet sich, den Schritt weiter zu gehen. Ins Risiko.

Jetzt betreibt sie hier in gediegenem Ambiente von 7 bis 15.30 Uhr ihr FL Atelier für Confiserie. Ab 15.30 Uhr wird das Lokal dann zur Razzia Bar. Felicia darf die Geräte und die Küche mitbenutzen. Dort hat sie nur ein paar Quadratmeter Platz. Bis zur Decke stapeln sich Schatullen mit Caramelia, Backpulver, Choccini, Piemont-Haselnüssen, Zitronensäure, Feuilletine für ihre Biskuits, Krokants, Gelees. Sie hat eine Mitarbeiterin: „Ein Glücksgriff, sie denkt wie ich.“

Die Minidesserts für à la carte wären eine Leichtigkeit. Aber Felicia Ludwig hat auch viele externe Kunden. Sie krönt Galas und Bankette mit ihren Nachtischen. Kreiert passende Törtchen für die neue Kollektion von Louis Vuitton. Beliefert ein nobles Zürcher Hotel mit 500 Desserts pro Woche. Entwirft Süßspeisen nach Maß für betuchte Privatkunden. „Mein Problem ist, dass ich nicht Nein sagen kann.“

Ihr Weg geht noch weiter: Bald bezieht sie ihre 200 Quadratmeter große Produktionsküche nur für Süßes. Ihr Geschmackslaboratorium. Eine alchimistische Experimentier-Klause mit extra Schokoladenraum. Othmane Khoris, ihr Nachfolger als Patissier des Jahres, macht es ähnlich. Nach der Wintersaison will er das De-luxe-Hotel The Alpina in Gstaad verlassen und sich selbstständig machen.

Das Problem mit dem Loslassen

Kann sie auch mal Ruhe finden und gar nichts tun? Anfang des Jahres, sagt Felicia Ludwig, gönnte sie sich eine Woche Urlaub mit ihrem Lebensgefährten. „Es war wirklich schön. Aber ich habe ständig an die Arbeit gedacht. Ich weiß nicht, was ich falsch mache.“ Sie würde gerne an diesen Punkt gelangen. Wo das Leben sacht auf einen herabrieselt und mit feinem Schmelz umhüllt und es einem ganz leicht macht. „Aber wenn ich die Aufträge sehe, die ich jetzt abzuarbeiten hab, da kann ich ja gar keinen Gedanken haben ans Loslassen, weil das gemacht werden muss. Heute denke ich an morgen, morgen muss ich an übermorgen denken. Immer vorwärts.“ Seit Jahrzehnten arbeite sie 16 Stunden jeden Tag – „überall, wo ich bisher war“. Woher nimmt sie die Energie? Das fragt sie sich auch manchmal.

Und jetzt fängt es erst richtig an mit der neuen Produktionsküche. „Ich hoffe so sehr, dass es funktioniert. Dass ich dann mein Reich habe, die Qualität halten und irgendwann das Leben genießen kann“, sagt sie. Essen gehen. Ausgehen. Frei machen und an nichts anderes denken müssen. Sie weiß, alle Anfänge sind stressig und schwierig. „Aber vielleicht hat sich nach einem Jahr oder zwei Jahren vieles eingespielt.“

Sie wohnt 20 Autominuten von ihrer Confiserie entfernt. „Wenn ich zu Hause bin, wünsche ich mir Zeit zum Putzen“, sagt sie. „Manchmal fühle ich mich wie in einer Pension: Ich komme zum Schlafen, morgens um fünf gehe ich wieder.“ Ihr Lebensgefährte ist Restaurantleiter im Razzia, so sehen sie sich wenigstens oft und sind irgendwie zusammen, auch wenn jeder dort seine Arbeit erledigen muss. „Wir wissen, dass wir das alles für uns machen.“

Es gibt Momente, da denkt sie an ihr rumänisches Dorf. An Festtagen wie Ostern oder Weihnachten wurden die großen Holzöfen angeheizt, die Frauen backten Kuchen, die Leute kamen zusammen. Alles sehr einfach. „Aber es war schön, ich vermisse es.“

Ihre Mutter und Geschwister leben inzwischen in Schwäbisch Hall. Felicia findet kaum Muße für Besuche. Aber sie schauen ab und zu bei ihr in Zürich vorbei. Bisweilen fallen ihr dann einzelne Wörter auf Rumänisch nicht mehr ein. Die Versuchung, einen schwäbischen oder schwyzerdütschen Akzent anzunehmen, verspürte sie nie.

Sie musste sich immer entscheiden: Karriere oder Kinder. Und immer wieder kam eine Situation, die das Thema vom Tapet fegte. Jüngst das eigene Café. Jetzt die neue Halle. Immer kommt wieder was. „Ich liebe Kinder, und Kinder lieben mich über alles“, sagt Felicia Ludwig. „Aber in der Gastronomie ist das auch nicht so einfach, ganz für ein Kind da zu sein.“

Sie wurde mal gefragt: „Feli, wofür kämpfst du eigentlich?“ – „Ich mache das für mich, und ich mache es gern“, hat sie geantwortet. „Es erfüllt mich.“