Heide Ruopp im Pfarrgarten. Dort lag Agnes Günther, tuberkulosekrank und bei Hitze oder Kälte dem einzigen Heilmittel ausgesetzt, das man sich in der damaligen medizinischen Hilflosigkeit vorstellen konnte: Luftkur. Foto: /Wolfgang Albers

Vor gut 100 Jahren schrieb eine Pfarrersfrau einen Bestseller, heute hält eine Pfarrersfrau die Erinnerung an die Fast-Vergessene wach. Auf den Spuren von Agnes Günther und dem Roman „Die Heilige und ihr Narr“.

Langenburg - Glaube kann Berge versetzen. Engagement auch. Wer wüsste das besser als die Pfarrersfrau Heide Ruopp. Unterhalb der Stadtmauer von Langenburg recht die 67-Jährige in einem steilen Hang Laub zusammen. Kein ungewöhnliches Bild in diesen Spätherbsttagen, da pflegt eine ihr Stückle. Aber hier ist es etwas anders. Hier hängt an der Stadtmauer auf halber Höhe ein Korb.

 

Heide Ruopp hat einen alten Katasterplan dabei. Er zeigt einen Geländestreifen unterhalb der Mauer, den alten Pfarrgarten. Vor einigen Jahren war er noch mit Aushub überschüttet und mit wildem Gesträuch überwuchert. Mit sehr viel Aufwand haben der Schwäbische Albverein und der Langenburger Geschichtsverein diesen Pfarrgarten wieder freigebaggert, Mauern eingezogen, Stufen angelegt, Rosen gepflanzt. Und Kletterer haben den Korb in der Mauer fixiert.

Vor mehr als hundert Jahren hat der Langenburger Stadtpfarrer Rudolf Günther in diesem Korb Lebensmittel in den Garten hinuntergelassen. Dort lag seine Frau Agnes, tuberkulosekrank und bei Hitze oder Kälte dem einzigen Heilmittel ausgesetzt, das man sich in der damaligen medizinischen Hilflosigkeit vorstellen konnte: der Luftkur.

Der Kosmos der Agnes Günther

Die Leidende hatte wenigstens eine prächtige Aussicht. Der Blick fällt hinunter auf die Windungen der Jagst und wandert hinüber zu den Waldhängen über dem Fluss, auf Weiler, Vizinalsträßchen und Burgentürme.

Der Kosmos der Agnes Günther (1863-1911). Auf vielen Manuskriptseiten bevölkerte sie später Burgen und Dörfer mit dem Adel und dem einfachen Volk – den Menschen, die sie kennengelernt hatte, seit sie 1891 als Frau des Stadtpfarrers nach Langenburg gekommen war.

So wie 1988 auch Heide Ruopp nach Langenburg kam – als Frau des Stadtpfarrers Wilhelm Arnold Ruopp. Als sie ins Pfarrhaus einzogen, hing davor eine Tafel: „Dem Gedenken an Agnes Günther.“ Heide Ruopp nahm bald wahr, dass immer wieder Menschen dort stehen blieben. Sie lernte, Interessierte auszumachen: „Das waren meist ältere Frauen, gut angezogen, so der Typ Oberstudienrätin.“

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Manchmal klingelten sie auch. Heide Ruopp erinnert sich noch an ein Mittagessen, der Mann und die drei Kinder saßen am Tisch und wollten nicht gestört werden. Da rief der zwölfjährige Sohn aus dem Fenster heraus: „Die Agnes Günther ist nicht zu Hause!“

Auch wenn Heide Ruopp vor dem Pfarrhaus die Kandel kehrte, fragten sie Vorbeikommende nach Agnes Günther. Außer, dass ihre Vorgängerin all ihre Langenburger Eindrücke in einem Roman verdichtet hatte, wusste sie nichts. Das war ihr etwas peinlich, und so dachte sie sich: „Die Heilige und ihr Narr“ muss ich mal lesen. „Lass es“, sagte ihre Schwiegermutter: „Das ist totaler Schund.“

In dieser Kategorie war Agnes Günther damals angekommen – vor allem, seit der Germanist Walter Killy ihr Werk gleich mehrfach in seine Sammlung „Deutscher Kitsch“ aufgenommen hatte. Auch Heide Ruopp tat sich sehr schwer beim Einlesen in die Liebesgeschichte der empfindsamen Fürstentochter Rosmarie, Seelchen genannt, und dem Maler Harro aus verarmtem Adel, in den sie sich verliebt: „Warum hat die keinen Lektor gehabt?“

145 Auflagen

Man muss durch gut 600 Seiten, eine breit ausgewälzte Handlung und einen Attribute-Tsunami. Allerdings: als Agnes Günthers Buch 1913 im Stuttgarter Steinkopf-Verlag erschien, riss es sofort alle Auflagen-Rekorde, mittlerweile sind nach 145 Auflagen rund anderthalb Millionen Exemplare verkauft.

„Der Roman ist nicht tot zu kriegen“, hat Agnes Günthers Enkel, hochbetagt, einmal zu Heide Ruopp gesagt. Mittlerweile ist selbst die Literaturwissenschaft gnädiger geworden: Der Bestseller muss ja schon vielschichtiger sein, wenn er so viele Menschen faszinierte.

Heide Ruopp hat das Buch geholfen, Langenburg und Umgebung besser wahrzunehmen. Sie ist im Schwäbischen Wald aufgewachsen und eine Zugezogene im fränkischen Hohenlohe. Eine sehr kontaktfreudige: „Als Pfarrer taufst du, konfirmierst du, verheiratest du, beerdigst du. Da hast du ständig mit den Leuten zu tun.“ Als Pfarrfrau auch, und so ist sie in Häuser gekommen, wo ihr alte Leute von ihrer Dienstzeit im Langenburger Schloss beim Fürsten von Hohenlohe erzählt haben - weil so ein Job wesentlich attraktiver war, als sich als Magd oder Knecht zu verdingen.

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Mehr und mehr merkte sie: Ihre Pfarrhaus-Vorgängerin hatte auch das Soziogramm einer Feudalgesellschaft gezeichnet, deren Tage bald gezählt sein sollten (im Dorf liest man damals schon den sozialdemokratischen „Vorwärts“). Und sie hatte einen aufmerksamen, bisweilen ironischen Blick. Etwa in die Fürstenloge der Stiftskirche, wo die Sitte die Anwesenheit des Schlossherrn verlangt: „Der Fürst hat selten eine bessere Gelegenheit gefunden, seinen Gedanken Audienz zu geben als während der Sonntagspredigt.“

Ihr Interesse an der Vergangenheit haben Heide Ruopp und ihr Mann bald institutionalisiert: Beide schoben den Geschichtsverein mit an. Und dort hat sich Heidi Ruopp speziell um das Waldhaus gekümmert, eine hohe Holzhütte im Langenburger Forst, einst ein Jagdstützpunkt der Fürsten. Mit einem großen Helferkreis hat der Verein es renoviert - und Heide Ruopp marschiert immer wieder mit einer rot-weißen Hohenlohe-Fahne in der Hand dorthin. Die einstige Skeptikerin ist eine Günther-Spezialistin geworden, die Führungen auf den Spuren des Romans anbietet.

Unterschlupf im Goldhaus

Mit ihren Gästen imitiert sie im einstigen Hain der 500-jährigen Eichen, von denen nur noch ein Trumm steht, einen Festzug zum Waldhaus. Dort, im „Goldhaus“ des Romans, lässt Agnes Günther das Paar wohnen, das sich gefunden hat und damals schon so naturverbunden ist wie die heutigen Öko-Freaks.

Heide Ruopps Helfer haben vom Haus einen Pfad durchs Dickicht geschlagen, Trittsteine gelegt, und so kann sie ihre Gruppen auf eine weite freie Fläche führen, die Römerwiese des Romans. Hier pflückt Rosmarie Blumen - und wird in die Brust geschossen. Ihre Stiefmutter, des Fürsten zweite Frau, hat abgedrückt - ein verschlagenes, neidisches, luxusliebendes, verwöhntes Weib aus dem Bilderbuch der Küchenpsychologie.

Ja, auch eine schwäbische Pfarrersfrau konnte schon ein bisschen „Games of Thrones“. Und im Hause Hohenlohe war man lange not amused ob solcher Darstellung - zumal Kundigen schnell das Vorbild der Romanfigur einfiel.

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Seelchen siecht von da an über noch gut 200 Seiten ihrem Ende entgegen. Darin hat Agnes Günther ihr eigenes Sterben verarbeitet – und die Frage: Warum lässt Gott Leid zu? Darüber entwickeln sich auch oft Gespräche bei den Führungen: „Der Roman ist nicht nur Liebesschmarren“, sagt Heide Ruopp. Die zahlreichen Auflagen des Werks füllen eine ganze Regalwand in ihrem Wohnzimmer, und in Kartons hütet sie Illustrationen, etwa vom Maler Felix Hollenberg, oder Teile des Nachlasses des Theologen Karl Josef Friedrich, der das Manuskript der Agnes Günther nach ihrem Tod gefunden und herausgegeben hatte. Wer übernimmt das mal alles? Heide Ruopp hofft auf das Literaturarchiv Marbach, wo schon das Originalmanuskript liegt. Denn Seelchens Welt vergeht mehr und mehr.

Heide Ruopp fährt den Besucher übers Land, zu den Burgen Morstein und Tierberg. In Morstein, im Roman eine Ruine, hat ein Immobilienmakler die Kapelle zu einem schicken Besprechungsraum gestaltet, Tierberg lässt gerade ein Stuttgarter Verleger sanieren, eine Millionen-Baustelle. Heide Ruopp gefällt, was sie sieht: „Dass die zwei Schlösser erhalten und genutzt werden, ist einfach gut.“

An einer Stelle lässt Agnes Günther den Fürsten sagen: „Ich habe Altes erhalten, weil in alten Dingen, wenn sie auch nur Pietätswert haben, doch ein Segen liegt. Wir sind doch nur Glieder in einer Kette. Ist ein einziges Glied morsch geworden, so ist der Kontakt zerrissen. Und die Zeit reißt mächtig an der alten Kette.“