Jürgen Wertheimer. Foto: dpa

Kulturschaffende aus Europa und aus arabischen Ländern treffen sich an diesem Samstag in Stuttgart. In der Stadtbibliothek diskutieren sie die Beziehungen zwischen Ost und West. Ausgangspunkt ist die 1819 entstandene Textsammlung „west-östlicher Divan“ von Johann Wolfgang von Goethe.

Kulturschaffende aus Europa  und  aus arabischen Ländern treffen sich an diesem Samstag in Stuttgart. In der Stadtbibliothek diskutieren sie die Beziehungen zwischen Ost und West. Ausgangspunkt ist die 1819 entstandene Textsammlung „west-östlicher Divan“ von Johann Wolfgang von Goethe.
Stuttgart - Herr Wertheimer, ist angesichts der aktuellen politischen Entwicklung in den arabischen Ländern der Titel „West-östlicher Divan“ noch angemessen für ein Dialogprojekt zwischen Ost und West?
Der, wie Sie andeuten, eher beschauliche Klang des Titels täuscht. Dahinter verbirgt sich ein spannendes, innovatives, provokantes Projekt, das Goethe vor 200 Jahren in einer Mischung aus Neugier, Offenheit und Lust an der subtilen Provokation auf den Weg brachte. Da mögen zwar einige Passagen heute sehr beschaulich wirken, aber zu dem Konzept dieser Sammlung kann man zu 100 Prozent stehen, da gibt es viele Aspekte, die auch heute noch von Bedeutung sind.
Welche Aspekte meinen Sie?
Es gibt nicht viele solcher Beispiele, die zeigen, wie sich ein Autor mental einen Partner aus einem anderen Kulturkreis sucht und mit diesem eine Partnerschaft auf Augenhöhe eingeht. Goethe geht hier mit Harfis regelrecht durch dick und dünn. Der westliche Autor spiegelt sich im östlichen und umgekehrt. Ein zweiter Aspekt ist, dass Goethe einen völlig harmonischen Osten beschreibt als Gegenbild zu einem chaotischen, anarchistischen und zerfallenden Westen.
Was seinerzeit gewagt war
Solch eine Umkehr ist spannend und produktiv, empfinden wir doch unser Territorium als weitgehend geordnet und den Osten als chaotisch. Allein sich auf solch eine Umkehr der Wahrnehmung mal einzulassen finde ich der Mühe wert. Wir werden aufgefordert, die eigene Saturiertheit zu überdenken
Und wie halten Sie es persönlich mit Goethe?
Mich faszinierte von Anfang an die offene Konzeption dieser Sammlung, die ich als Baukasten für heutige Denkmodelle sehe. Ein 65-jähriger renommierter Autor schreibt hier ein Buch, das er zehn Jahre später erweitert und verändert. Es ist ein offenes Kunstwerk, zu dem auch andere etwas beitragen können und kein hermetisches Gebilde, wie es sonst häufig der Fall ist.
Mit welchem Ziel?
Schon beim schnellen Lesen zeigt sich, dass Goethe immer gleich drei oder vier Standpunkte vertritt. Er nimmt also keine pauschale Haltung ein, sondern reflektiert wie in einem Spiegelkabinett die verschiedensten Positionen. Das Fremde ist für ihn nicht das Andere, sondern das Ähnliche. Aber abgesehen von diesem Jubiläumsanlass hätte von uns niemand das Wort Divan verwendet. Es stand damals eben für eine Versammlungsstätte des freien Gedankenaustausches. Heute ist es in die Nähe zum Sofa gerückt.
Was bedeutet dies für die Veranstaltungen selbst?
Wir haben uns bemüht, die verschiedensten Stimmen zusammenzutragen, die sich keineswegs unbedingt auf einer Wellenlänge befinden müssen. Arabische, westliche, israelische Stimmen sind gleichermaßen vertreten. Die Teilnehmer sind verschiedenster Herkunft und Denkungsart.
Ein direkter Bezug zu Goethe . . .
Ja, so hat ja auch Goethe in seinem Divan ein Bild der muslimischen Welt gezeichnet, das alles andere als unkompliziert oder konformistisch ist. Das Bild des stets trinkenden und enthusiasmierten Dichters Hafis, der immer der Liebe zugeneigt ist, wird einem muslimischen Leser wohl kaum ein Ideal sein.
In Stuttgart ist auch der algerische Friedenspreisträger Boualem Sansal zu Gast. Er begibt sich bewusst in Lebensgefahr, um seine Kritik an dem ihn umgebenden Gesellschaftssystem formulieren zu können. Wie sehen Sie das?
Sansal kritisiert den Islamismus, doch er liebt die Maghreb-Länder. Er schätzt deren polykulturelle Geschichte, die aber immer wieder in die Hände von verschiedensten Machthaber geraten. Deren Vermischung macht für Sansal Qualität aus. Die Potentaten hingegen unterdrücken grade dies: Sie wollen die Inkarnation einer eindeutigen Identität. Damit aber beginnt die Lüge und die Gefährdung. Denn so werden viele ausgegrenzt oder verbannt.
Welche Rolle soll oder kann Europa hier spielen?
Angesichts der großen Zuwanderung aus den Ländern des nahen Ostens ist heute Europa gefordert, in dieser Sache Position zu beziehen. Wir dürfen nicht immer nur über die anderen reden, sondern müssen wie bei Goethe die Sache umdrehen und wahrnehmen, wie es mit deren Wünschen und Bedürfnisse aussieht. Man kann über die Wirklichkeit oft sogar besser über den Umweg der literarischen Folie reden.
Unter welchen Aspekten haben Sie die anderen Teilnehmer ausgewählt?
Da bauen wir teilweise auf bewährte Kontakte. Mit Sansal verbindet uns ja fast schon eine Arbeitsgemeinschaft. Er möchte unablässig den Stellenwert der Literatur forcieren. Wir wollten aber nicht nur Literaten, sondern auch Leute, die mit der so genannten Wirklichkeit näher in Kontakt stehen.
An wen denken Sie?
Der langjährige Korrespondent Jörg Armbruster weiß, wovon er spricht. Hinzu kommen Diplomaten wie Avi Primor. Schärfere Töne kommen von der deutsch-türkischen Publizistin Nekla Kelek, moderatere oder poetischere von der Übersetzerin Claudia Ott. Wir bieten eine Mischung von Realität und Fiktion, auch wenn dies nicht immer leicht voneinander zu trennen ist.
Spielt auch der Veranstaltungsort eine Rolle?
Die neue Stadtbibliothek Stuttgart mit ihrem polykulturellen Anspruch lässt sich da auf die verschiedenste Art bespielen. Da gibt es ja sogar eine Quelle mit einem entsprechendem Raum sowie die verschiedensten Galerien und Zwischenhöfe. Literatur soll hier nicht als Dekoration für feierliche Stunden, sondern als politische Stimme und Stimmung wahrgenommen werden, weil sie mit den Menschen und ihrer Wirklichkeit zu tun hat. Das ist schwierig und da entstehen gegenseitige Ängste voreinander, aber wir müssen eben lernen, uns als ganzheitliche Wesen zu begreifen, und da gehören Politik und Kultur nun mal zusammen. Schließlich entstehen Konflikte aus den Materialien der Kultur.
Welche Botschaft wollen Sie vermitteln?
Jedenfalls keine moralisierende. Im Idealfall sollte es wie bei Goethe funktionieren: Man soll erkennen, dass die meisten scheinbar unüberwindlichen Grenzen von den Menschen selbst gemacht sind, also auch von Menschen rückgebaut werden können. Alle unsere Dogmen, Ver- und Gebote sind menschliches Werk, die überwiegend aus Wörtern bestehen.
Kultur als Fingerzeig?
Goethe geht mit Grenzen und Entgrenzung spielerisch, aber nicht verantwortungslos um, Lessing versucht dies in seinem Nathan auf andere Weise. Jedenfalls eine Möglichkeit, vielen Dingen die Tödlichkeit zu nehmen. Wir wollen hier keine großen ethischen Botschaften verkünden oder „Weltethos“ ausrufen. Die Katastrophen finden trotz dieser wohlmeinenden Bemühungen weiter statt. Deshalb wollen wir uns von einer anderen Seite nähern. Es geht uns mehr wie Friedrich Schiller um die ästhetische Erziehung des Menschen. Der Mensch lebt, überlebt und spielt gern, er ist lieber klug als dumm. Man sollte ihn an seinen eigenen Lebensinteressen packen. Es ist auch eine Ermutigung, über das Spielerische die Probleme anzugehen. Das ist nicht so direkt, es ist kein Appell an Gut oder böse, sondern an den kreativen Umgang mit sich selbst und den anderen.
Aus Syrien kommt der Vorwurf an uns: Warum senden wir keine Bücher in das Land, um unsere Werte zu vermitteln, sondern Waffen? Was halten Sie davon?
Wir machen ja bereits einen Bücheraustausch mit Marrakesch und Algier. Und Bücher sind dort in der Tat wichtig, sonst wären dort manche ja nicht verboten. Es ist doch bezeichnend, dass man in Algerien kein Buch von Boualem Sansal kaufen kann. Ähnlich wie bei uns im Dritten Reich haben die Machthaber dort Angst vor der Haltung, die solche Bücher vermitteln können. Deshalb ist dieser Austausch extrem wichtig. Die Waffen kommen zum Einsatz, wenn der Kopf auf Schuss programmiert ist. Der eigentliche Krieg findet im Vorfeld statt und besteht aus Wörtern und Argumenten.
Ist das nicht eine Anregung, ein Dialogprojekt wie den west-östlichen Divan auch in einem der arabischen Ländern zu veranstalten?
Sicher, aber auch daran arbeiten wir . Denn trotz aller Beschaulichkeit enthält der Divan einige problematische Stellen. So will darin der Poet möglichst vielstimmig sein Publikum erreichen und mit Abwechslung unterhalten, während der Prophet ganz einfach in seiner Ausdrucksweise ist, weil er seine Gruppe um seine Fahne versammeln will. Goethe setzt irritierende Akzente, um Dogmen zu attackieren und den „düsteren Religionsschleier“ zu zerreißen.
In welchen Ländern können Sie sich ein solches Projekt vorstellen?
Man darf da nicht utopisch sein: In Ägypten wird man derzeit wohl nicht mit solch einem Vorhaben kommen können. In Marokko schon eher. Da ist diese vermeintliche Beschaulichkeit sogar eher von Vorteil, indem wir hier nicht einen konfrontativen Titel verwenden, sondern auf Literarisches und Historisches hinweisen. Der Marokkaner Fawzi Boubia, Professor für deutsche Literatur und Kultur an der Universität in Rabat, der auch hier in Stuttgart anwesend ist, ist ein großer Fan von Goethes west-östlichem Divan.
Wie weit sind Sie denn mit den Planungen gediehen?
Es gibt die Kontakte, der nächste Schritt ist die Budgetierung. Da sind wir jetzt erst mal froh, dass wir dieses Stuttgarter Projekt finanzieren konnten. Wir hoffen da auch auf Anregung aus dieser Stuttgarter Veranstaltung. Wahrscheinlich wäre das schon der erste Fehler, wenn da ein Generalstabsplan aus deutscher Hand kommt. Man kann da viel nahelegen, aber es müssen auch Initiativen aus den jeweiligen Ländern kommen.
Wie schätzen Sie die Entwicklung in einzelnen arabischen Ländern ein?
Es kommt anderen zu, hier Prognosen zu wagen. Was Syrien betrifft, so hat die Weltgemeinschaft den Moment der Intervention aus Trägheit verpasst - der jämmerliche und schon jetzt zum Scheitern verurteilte Verhandlungsversuch , den wir gegenwärtig verfolgen können, beweist dies. Anderswo herrscht derzeit Ruhe - „Friedhofsruhe“? Ich weiß, jeder Versuch, von außen einzugreifen, ist hoch problematisch. Aber ich empfinde das distanzierte pseudobetroffene Zusehen als noch sehr viel gravierender