In "Halt auf freier Strecke" holt Regisseur Andreas Dresen ein Tabu zurück: Sterben.

Stuttgart - Alles beginnt mit einer Diagnose: inoperabler Hirntumor. Frank Lange ist von der Rolle, seine Frau Simone ringt um Fassung. Der Arzt versucht sachlich, das Grauen in Worte zu fassen und den beiden zu erklären, was ihnen nun bevorsteht. Nur ein gelegentliches "Hm, hm" signalisiert, dass auch er bestürzt ist, dass keine noch so große Routine solche Fälle alltäglich werden lässt.

In dokumentarischer Präzision hat Regisseur Andreas Dresen ("Sommer vorm Balkon") die Situation inszeniert. Jedes Wort, jede Geste, jede Gefühlsregung wirkt wie tatsächlich gelebt. Dabei ist nur der Arzt echt, das Ehepaar besteht aus den Charakterdarstellern Milan Peschel, auf der Bühne schon lange ein Star, und Steffi Kühnert, eine Wegbegleiterin Dresens. Er gibt einem Mann Konturen, der nichts mehr tun kann, als auf den sicheren Tod zu warten, sie verkörpert eine starke Frau, die in ihrer Liebe bis an die Grenze geht, während sie ihn zu Hause pflegt. Frank wird weder ins Heim abgeschoben noch ins Hospiz, seine Familie ist bis zum Schluss für ihn da - ein mächtiges Konzept, das keine Behauptung bleibt, sondern sich in vielen Details zur Realität verdichtet.

Das kleine Häuschen der Langes am Stadtrand wird zum Zentrum des Geschehens, Franks allmähliches Sterben taktet die Handlung, eingebettet in den Familienalltag: Simone hält den Haushalt zusammen und erträgt Franks mitunter heftige Launen, der verspielte Sohn Mika akzeptiert die Situation mit kindlicher Ernsthaftigkeit und Empathie, die jugendliche Tochter Lilly ringt mit ihrem Ekel und lenkt sich ab, indem sie sich auf ihren Sport konzentriert. Frank spielt zunächst noch Gitarre, macht Spaziergänge, versucht, keine Last zu sein, bis der Tumor zunehmend von ihm Besitz ergreift, dem sanften Mann cholerische Anfälle einbrockt und Totalausfälle: Mal wähnt er sich in Lillys Zimmer auf der Toilette, mal irrt er im Morgenmantel übers verschneite Feld.

Simone holt sich Hilfe, erlebt mit ihrer Mutter (Ursula Werner) typische Hakeleien, gerät an eine abgedrehte Esoterikerin (Inka Friedrich) und findet schließlich eine professionelle Sterbebegleiterin (die reale Ärztin Petra Anwar), die immer Rat weiß und warmherzig alle in den Arm nimmt, die es gerade brauchen. Alle drei, Simone, Mika und schließlich auch Lilly, erleben ihre Momente mit Frank, bekommen Gelegenheiten, sich gebührend von ihm zu verabschieden.

Das hat man im Kino so noch nie gesehen, und es mutet zunächst ungewohnt an - weil die westlichen Gesellschaften üblicherweise alles daransetzen, den Tod als Phänomen möglichst auszublenden, aus ihrem Blickfeld zu verbannen. Umso überraschender, wie schnell der innere Widerstand erlahmt, wie bereitwillig man als Zuschauer die Protagonisten begleitet, wie natürlich deren schwerer Weg sich nach ganz kurzer Zeit anfühlt, mit welch positiver Energie der Film einen aus dem Kino entlässt.

Andreas Dresen hat einen wesentlichen Faktor zivilisatorischer Entfremdung aufgedeckt, ihn ohne jede Beschönigung oder Romantisierung der Kamera ausgesetzt und ihm gerade dadurch den Schrecken genommen - ein cineastisches Kunststück, das das bekanntermaßen anspruchsvolle Publikum beim Filmfestival in Cannes zu Tränen gerührt und zu minutenlangen Ovationen im Stehen gebracht hat.

Ohne Drehbuch und mit einem kleinen Team bewährter Kräfte ist Dresen einmal mehr gelungen, was wahrscheinlich nur er so kann: Wie schon beim Beziehungschaos von "Halbe Treppe" (mit Steffi Kühnert) und der Seniorenromanze "Wolke 9" hat er "Halt auf freier Strecke" direkt am Set entstehen lassen. Schauspieler und Crew haben im permanenten Austausch ausprobiert und improvisiert, bis sich jede einzelne Einstellung wie ein ganz natürliches Stück Leben anfühlte, bis die Menschen darin in all ihrer Normalität und Widersprüchlichkeit erblühten und für Zuschauer überall auf der Welt als ihresgleichen erkennbar wurden.

Dabei ist der Regisseur weniger schlicht zur Sache gegangen, als es scheinen mag. Milan Peschel, der den Kranken auch nach schlimmsten Ausbrüchen wieder zum liebenswerten Vater werden zu lassen versteht, hat ein iPhone an die Hand bekommen. In dessen Kamera beobachtet Frank seinen eigenen Verfall, und er beginnt, es als filmisches Tagebuch zu nutzen; die Szenen, die er aufnimmt, lassen ihn als Hauptfigur auch dann noch präsent bleiben, als es zu Ende geht.

Als der Tumor die Oberhand gewinnt, nimmt er menschliche Gestalt an: Thorsten Merten ("Halbe Treppe") verkörpert ihn als smarten Mephisto-Charakter, der bei Harald Schmidt im TV-Talk Pointen setzt und den wehrlosen Patienten im Bett konfrontiert. Eine irrwitzige, surreale Visualisierung der Krankheit, und auch hier trifft Dresen den richtigen Ton.

Wie in allen seinen Filmen ist spürbar, wie sehr dieser Regisseur die Menschen mag. Besinnen müssen sie sich selbst, worauf es ankommt im Sein, dessen dunkle Facetten umso größer erscheinen, je weiter sie als Tabus dem Bewusstsein entfliehen.