Die zweieinhalbjährige Ariana ist an Diabetes Typ 1 erkrankt. Die Diagnose krempelt das Leben von Familie Gallinn aus dem Zollernalbkreis um – und beinahe hätten sie ein wichtiges Symptom der Krankheit übersehen.
Ein kleiner Piks in den Finger, schon bilden sich Blutstropfen auf dem Finger von Ariana Gallinn. Den ersten Tropfen wischt ihre Mutter Xenia Gallinn sorgsam weg, den zweiten lässt sie auf einen Teststreifen gleiten und steckt diesen in ein Blutzuckermessgerät. Ein Wert von 86 erscheint auf dem Display, Zeit fürs Frühstück.
Xenia Gallinn toastet ihrer Tochter eine Scheibe Vollkornbrot, bestreicht sie mit Nussbutter und zuckerreduzierter Marmelade und schneidet das Brot in mundgerechte Stücke. Mit jedem Biss steigt jetzt Arianas Blutzuckerspiegel, zeitgleich tippt ihre Mutter die Kohlenhydratmenge des Frühstücks in die Insulinpumpe ein, die Ariana in einer blauen Bauchtasche trägt. Viel zu groß erscheint das Gerät für den Körper der Zweieinhalbjährigen.
Der Notfallrucksack ist immer mit dabei
Insulin – ein Wort, das Tom und Xenia Gallinn bis vor Kurzem zwar mit Diabetes, aber nur mit älteren, beleibten Menschen verbunden haben. Seit Oktober vergangenen Jahres diktiert aber dieses Hormon ihren und den Alltag ihrer kleinen, an Diabetes Typ 1 erkrankten Tochter. Xenia Gallinn sitzt am hölzernen Esstisch ihres Hauses. Von der Terrasse blickt man auf Jungingen, eine kleine Gemeinde im Zollernalbkreis, hinab.
Hinter der Familie liegt wieder eine anstrengende Nacht. Mehrmals piepte und blinkte die Insulinpumpe und wies darauf hin, dass Arianas Blutzuckerwert deutlich zu hoch war und mit Insulin reguliert werden musste. Ariana ist in solchen Momenten aufgedreht und findet schlecht wieder in den Schlaf. Sieht man das Mädchen durch das lichtdurchflutete Wohnzimmer flitzen, merkt man ihr die Krankheit nicht an. Sie versteckt sich unter dem Kleid ihrer Mutter, guckt die Zeichentrickserie „Peppa Wutz“ oder zeigt Gästen stolz ihren hellblauen Rucksack. In ihm befindet sich alles, was sie als Diabetikern braucht: ein Handy, auf dem die Insulinpumpe ihre Werte speichert, zwei Tütchen Gummibären, um den Blutzuckerspiegel schnell zu heben, und eine Zuckerlösung für schnelle Energie bei besonders niedrigen Werten. In der Seitentasche steckt ein Diabetesausweis mit Name, Anschrift und Telefonnummer, damit Fremde ihre Eltern im Notfall informieren könnten.
Das wichtigste Symptom hätten sie beinahe übersehen
Xenia Gallinn führt in das Untergeschoss, wo ein großes Regal steht. Fein säuberlich sortiert liegen hier Katheter, Blutzuckersensoren, Pflaster, Teststreifen, Desinfektionsmittel, Tupfer und Stechhilfen. Im Kühlschrank lagern die Insulinfläschchen. Die Eltern müssen das alles im Blick behalten, für alles muss rechtzeitig ein neues Rezept her.
Erzählt Xenia Gallinn von den Tagen im Oktober vergangenen Jahres, bricht ihre Stimme. Ariana trank zunächst mehr als gewöhnlich, dann wurde sie schlapp und müde und verlor leicht an Gewicht. Ihre Eltern machten sich zwar Sorgen, doch alarmiert waren sie noch nicht. Kurz vorher wollte Xenia Gallinn abstillen, was den Durst hätte erklären könnte. Zudem wuchs Ariana kräftig, ein möglicher Grund für den Gewichtsverlust. „Wahrscheinlich hätten wir Ariana zunächst weiter beobachtet und wären erst ein paar Tage später zum Kinderarzt gefahren“, sagt Xenia Gallinn.
Die Tagesmutter, eine ehemalige Altenpflegerin, gab jedoch den entscheidenden Hinweis: Starker Durst sei ein Symptom von Diabetes. Sofort, an jenem Sonntag im Oktober, fuhr die Familie in die Diabetesambulanz der Kinderklinik des Universitätsklinikums Tübingen. Mehrere Blut- und Urintests bestätigten die Vermutung.
Warum bekommen Kinder plötzlich Diabetes?
Die erste Frage der Eltern an die Ärzte – „Haben wir etwas falsch gemacht?“ – wurde sofort verneint. „Diabetes Typ 1 ist eine unheilbare Autoimmunkrankheit, die in jedem Fall unverschuldet auftritt. Ob man die Krankheit bekommt und wie sie verläuft, lässt sich im Gegensatz zu Diabetes Typ 2 nicht durch Ernährung und Bewegung beeinflussen“, betont der Tübinger Facharzt für Kinder- und Jugendmediziner Julian Ziegler, der auch Ariana behandelt.
Jährlich erkranken in Deutschland etwa 3700 Kinder zwischen null und 17 Jahren an Diabetes Typ 1, Tendenz leicht steigend. Jungen sind etwas häufiger betroffen als Mädchen. Bei Diabetes Typ 1 wendet sich der eigene Körper gegen die Betazellen, die eigentlich das Hormon Insulin in der Bauchspeicheldrüse produzieren, und zerstört diese. Ohne Insulin kann der Körper den Blutzucker nicht regulieren, die Zellen können die Kohlenhydrate aus dem Essen nicht richtig verwerten und keine Energie für alle körpereigenen Prozesse gewinnen. Gibt es Vorbelastungen in der Familie, ist das Risiko zu erkranken erhöht. „Die genauen Ursachen sind allerdings bis heute nicht vollständig geklärt“, sagt Julian Ziegler.
Kohlenhydrate – die Feinde jedes Diabetespatienten
Eltern und ihre Kinder, die meist aus heiterem Himmel die Diagnose erhalten, sind zunächst geschockt und fragen sich, wie sie die neuen Aufgaben in ihren meist eng getakteten Alltag integrieren können. Das zumindest beobachtet Susann Herrlich, leitende Diätassistentin für Kinder im Universitätsklinikum Tübingen. In ihren Schulungen, die auch die Gallinns erhalten haben, führt sie die Familien an ein Leben mit diabetesgerechter Ernährung heran und zeigt, dass der neue Alltag mit Wissen, etwas Training und Routinen machbar ist.
Alle kohlenhydrathaltigen Zutaten müssen gewogen und in der Nährwerttabelle nachgeschlagen werden. Denn Kohlenhydrate, etwa in Nudeln, Kartoffeln, Brot und Reis, sind nach der Verdauung nichts anderes als Zuckermoleküle. Um diese verarbeiten zu können, braucht der Körper Insulin – das der diabeteserkrankte Körper jedoch nicht mehr selbstständig produzieren kann.
Auch für Obst, ein Eis im Freibad und ein Stück Schokolade muss die Kohlenhydratmenge ausgerechnet und in die Insulinpumpe eingegeben werden. Je mehr Vorwissen über Ernährung vorhanden ist und je motivierter die Familien sind, desto leichter fällt der Umstieg auf eine diabetesgerechte Ernährung, beobachtet Susann Herrlich: „Dann braucht es auch keine strengen Diätregeln. Mit gesunden Ernährungsgewohnheiten und regelmäßigen Essenszeiten ist schon viel erreicht.“
„Die Pizza ist Königsdisziplin“
Herausfordernd wird es, wenn die Mahlzeiten nicht selbst gekocht sind: „Die Kohlenhydratwerte einer Pizza genau zu berechnen, ist die Königsdisziplin“, sagt die 33-jährige Xenia Gallinn, die als Yogalehrerin und Coach für Persönlichkeitsentwicklung arbeitet. Ihre flexiblen Arbeitszeiten in der Selbstständigkeit in Kombination mit der festen, gut bezahlten Stelle ihres Mannes ermöglichten der Familie, die Gesundheit von Ariana in den Mittelpunkt ihres Lebens zu stellen.
Fünf Monate nach der Diagnose ist etwas Ruhe in Jungingen eingekehrt. Neue Fragen, die künftig beantwortet werden müssen, beschäftigen die Familie aber schon jetzt. Ab Juni soll Ariana in den Kindergarten gehen, wer kümmert sich dann um das Diabetesmanagement? Xenia und Tom Gallinn stehen mit der Stadt in Kontakt. Sie hoffen, dass sich eine Begleitung in der Kita und auch später in der Schule um Ariana kümmern wird – ausreichend Personal für diese Aufgabe gibt es in vielen Kreisen des Landes nicht.
Beim Baden die Diagnose vergessen
Mit Arianas neuen Kindergartenfreunden werden automatisch die ersten Geburtstagseinladungen mit Muffins und Limonade nicht lange auf sich warten lassen. Blicken die Eltern weiter in die Zukunft, stellt sich zudem die Frage nach Klassenfahrten, Schulmahlzeiten und Freibadbesuchen mit Freunden, für die die Insulinpumpe vorübergehend ausgestöpselt werden muss.
Die neuen Aufgaben, diese „Galaxie an Verantwortung für Arianas Gesundheit“, wie Xenia Gallinn sagt, habe die Familie noch enger zusammenwachsen lassen: „Seit mir bewusst ist, wie begrenzt Lebenszeit ist und wie fragil unsere Gesundheit ist, bin ich demütiger geworden.“ Zweimal in der Woche entfernen sie und ihr Mann den Katheter und den Sensor von Arianas Körper und gehen zusammen baden. Für eine Stunde halten sie ihr nacktes Kind in den Armen – und können die Diagnose für kurze Zeit vergessen.