Das deutsche EM-Team um Außenstürmerin Klara Bühl (Nummer 19) – wie stark ist es wirklich? Foto: imago/Abacapress

Die DFB-Elf besticht bei der EM mit ihrem Teamgeist und der großen Widerstandskraft nach Rückschlägen. Spielerisch läuft es noch nicht. Wo führt der Weg hin?

Bondscoach Andries Jonker hatte genügend Themen, die es nach dem 0:4-Debakel seiner Niederländerinnen gegen England aufzuarbeiten galt. Der ehemalige Co-Trainer von Louis van Gaal beim FC Bayern aber hatte am späten Mittwochabend noch kurz die Muße, den allgemeinen Leistungsstand der Teams bei der EM in der Schweiz zu bewerten.

 

Spanien also sehe er als „die absolute Nummer eins“, sagte Jonker. Dahinter folgten „sieben, acht, neun Teams, die top sein können“. Dem ist nach den jüngsten Eindrücken vom Turnier kaum zu widersprechen – nur sind die Französinnen nach starken Auftritten wohl aktuell die klare Nummer zwei hinter den übermächtig erscheinenden Weltmeisterinnen aus Spanien, ehe das Gros der anderen Mannschaften kommt.

Mit Blick auf die deutsche Elf wählte Jonker jedenfalls eine geradezu perfekte Formulierung. Denn das Team von Trainer Christian Wück kann ja, wenn es sein Potenzial ausschöpft, tatsächlich top sein – ist es aber mit Blick auf die Leistungen in den ersten Gruppenspielen gegen Polen (2:0) und Dänemark (2:1) noch nicht. Klar, der Einzug ins Viertelfinale ist schon vor der letzten Vorrundenpartie an diesem Samstag im Züricher Letzigrund gegen den punktgleichen Tabellenersten Schweden (21 Uhr/ZDF) geschafft – allerdings: Spielerisch überzeugt hat das deutsche Team bisher nur in Ansätzen. Und wenn, dann immer nur in der zweiten Hälfte, nach jeweils schwachem ersten Durchgang.

Hohe Fehlerquoten im Passspiel, zu wenig Tempo und Tiefenläufe, das war das Bild. Erst nach dem Seitenwechsel war gegen Polen und Dänemark Zug drin, die DFB-Elf agierte entschlossener und zielstrebiger, die Abläufe wirkten austarierter. Aber auch das, ohne spielerisch zu überzeugen.

Und so spart der Bundestrainer nicht mit Kritik. Wück ärgert sich über die Passqualität seiner Spielerinnen: „Der erste Kontakt ist das Erste, was auffällt – und das ist der Unterschied zwischen den Spitzenmannschaften, wenn ich jetzt an Frankreich und Spanien denke. Das werden wir angehen.“

Auch Nüsken gibt sich kritisch

Auch die zentrale Mittelfeldspielerin Sjoeke Nüsken zeigt sich vor dem Vorrundenfinale selbstkritisch. „Wir konnten unser Offensivspiel nicht aufziehen, wir haben technische Fehler gemacht, das müssen wir abstellen“, sagt die 24-Jährige vom FC Chelsea – und ergänzt: „Dringend sogar.“ Doch wie lassen sich diese technische Mängel während eines Turniers so schnell beseitigen? Wück hat eine klare Antwort: „Wir müssen trainieren.“

Die Aussage überrascht etwas, denn jeder weiß, wie wenig Zeit man zwischen den Partien bei einer EM oder WM hat, um sich spielerisch noch weiterzuentwickeln. Die Regeneration steht da oft im Vordergrund – Wück sieht dennoch Steigerungsmöglichkeiten und betont noch dies: „Spanien und Frankreich haben uns jetzt auch gezeigt, dass wir Verbesserungspotenzial haben. Wir müssen uns vor keiner Nation verstecken. Aber wir müssen schauen, dass wir unser absolutes Top-Level mit allen im Team erreichen.“

Top bei den DFB-Frauen sind immerhin schon jetzt Wille, Einstellung und Charakter. Wück beschwörte nach dem 2:1 gegen Dänemark die deutschen Tugenden: „Es gibt bestimmte Charaktereigenschaften, wo sich Frauen- und Männerfußball nicht unterscheiden. Mentalität hat deutsche Mannschaften immer ausgezeichnet.“ Zumindest gegen die Däninnen zeigten seine Spielerinnen, was Wück meinte: Nach Rückschlägen in der ersten Hälfte (ein aberkanntes Tor und ein aberkannter Elfmeter durch den VAR, Gegentor zum 0:1) drehte seine Elf das Spiel mit Leidenschaft und Teamgeist. „Es war für mich unheimlich wichtig, auch mal dieses Gesicht der Mannschaft zu sehen, weil wir es aus technischer Sicht, aus spielerischer Sicht nicht hinbekommen haben“, sagte Wück also und feierte den „Sieg der Mentalität“.

Die starke Haltung des Teams gegen Widerstände ist insofern bemerkenswert, da in der verletzt abgereisten Kapitänin Giulia Gwinn und der verletzt gar nicht erst angereisten Mittelfeldchefin Lena Oberdorf die beiden größten Führungsfiguren im EM-Kader fehlen – und in Ex-Kapitänin Alexandra Popp und Ex-Abwehrchefin Marina Hegering zwei Anführerinnen ihre DFB-Karrieren vor der EM beendet haben.

Wücks Ensemble wirkt trotz des personellen Aderlasses stabil und gefestigt, es kann mit Rückschlägen umgehen. Das Problem: Gegen stärkere Gegner im weiteren Turnierverlauf werden Charakter, Siegeswillen und Zusammenhalt allein nicht mehr reichen. Obendrein wird eine miese erste Hälfte wohl anders bestraft werden als zuletzt von den schwachen Polinnen und Däninnen – womöglich schon an diesem Samstag von den Schwedinnen in Zürich, beim Finale um den Gruppensieg.