Astrid Meyerfeldt in „Der Kirschgarten“ am Schauspiel Stuttgart Foto: JU Ostkreuz

Dass der Kapitalismus Menschen nicht unbedingt gut tut, lässt sich mit Tschechow-Inszenierungen stets gut erzählen. An diesem dreieinhalbstündigen Abend erfährt man aber Beeindruckendes über die Einsamkeit des Menschen.

Stuttgart - Lopachin, weiße lange Hosen, nackter Oberkörper, verschwitztes Gesicht. Verstört sieht er aus. Dann, als sei ihm plötzlich klar, was passiert ist, fordert er: „Den Schlüssel, bitte!“ Wortlos nimmt Warja die Kette mit den Schlüsseln vom Hals, auf dem Boden kauernd, ein hübsches Häuflein Elend. Hier weicht Regisseur Robert Borgmann am Donnerstag bei seiner „Kirschgarten“-Inszenierung im Schauspielhaus Stuttgart leicht ab vom Text. Denn Tschechow gönnt in seinem 1904 uraufgeführten Stück Warja eine große Geste: Als sie hört, dass Lopachin den Kirschgarten ersteigert hat, wirft sie ihm die Schlüssel vor die Füße.

Üblicherweise werden solche Auftritte in Tschechow-Inszenierungen zelebriert. Robert Borgmann verzichtet darauf. Die feine Gesellschaft, die nun obdachlos ist, bleibt stumm, selbst Wanjas Pflegemutter, Gutsherrin Ranjewskaja, lässt sich nur zu einer nachlässig ausgeführten Ohrfeige hinreißen. Der Regisseur bleibt angenehm unaufgeregt in seiner genauen Figurenzeichnung. Als Manuel Harder als zu Geld gekommener Bauernsohn Lopachin von der Versteigerung berichtet, macht er dies mit vibrierender Aufgeregtheit, als habe er wirklich nicht vorgehabt, das überschuldete Gut zu kaufen. Er realisiert, was dieser wie im Rausch getätigte Kauf bedeutet: eine klassengesellschaftliche Umwertung. Knecht wird Herr. Wirklich freuen kann er sich nicht. Er wirkt überfordert, zornig sagt er, dass nicht mal seine eigenen Vorfahren ihm je etwas zugetraut hätten, die selbst bis vor Kurzem Sklaven waren und ein Gut wie dieses nicht hätten betreten dürfen.

Wer bekommt den kapitalistischen Schwarzen Peter zugeschoben?

Das ist ja immer die Frage im „Kirschgarten“: Wer bekommt den kapitalistischen Schwarzen Peter zugeschoben? Borgmann weist keine Schuld zu. Wie das Geld den Menschen verbiegt, zeigt er an einer Nebenfigur, an Gutsbesitzer Pischtschik (Robert Kuchenbuch). Der ist notorisch pleite, und als er mal zu Geld kommt, verliert er schier die Sprache. Und während die Gutsbesitzerin (Astrid Meyerfeldt) das Geld, das Pischtschik ihr vor die Füße wirft, achtlos liegen lässt, ist Lopachin sich nicht zu fein, seinen Anteil einzustecken.

Die Gutsbesitzerin und ihr Bruder Gajew (Peter René Lüdicke) sind schlicht unfähig, sich an die neue Zeit anzupassen. Sie haben auch nichts gegen Lopachin. Allenfalls Gajew ärgert sich, weil Lopachin, anders als er selbst, sich nicht einfach vom Leben treiben lässt, sondern ständig arbeitet und ihn unangenehm an seine eigene Faulheit erinnert. Die versponnenen Billardspiel-Murmeleien, in die diese Figur bei Tschechow immer wieder versinkt und die sie degeneriert wirken lässt, werden gestrichen. Für chaplinhafte Clownerie ist der hinreißend tölpelhafte Wolfgang Michalek als Kontorist Jepichodow zuständig. Peter René Lüdicke spielt Gajew als sympathisch lässigen Filou. Lopachins Idee, den Garten zu vermieten, kommt ihm und seiner Schwester so absurd vor, dass sie sich nicht echauffieren, sondern sich nur verschwörerisch anblicken – als sei Lopachin weltfremd und nicht sie selbst.

Am Ende sind sie alle allein

Manuel Harders Lopachin wiederum ist kein blöder neureicher Bauer, sondern einfach ein Mann, der viel arbeitet. Und er ist einer, der in dieser „Kirschgarten“-Aura ebenso verrückt wird wie die adeligen Besitzer. Während sie die Chance vertun, durch Vermietung des Gartens ihr Gut zu retten, vertut er die Chance auf ein Leben mit einer Frau, die ihn liebt: die resolut pragmatische Warja (Julischka Eichel).

Am Ende sind alle allein. Von diesem Sich-darüber-Wundern ist die Inszenierung durchweht. Menschen, zeigt sie, sind nicht vernünftig. Sie leben von Illusionen, wissen nicht, wer sie sind, was ihnen guttut, weshalb der Regisseur das Bühnenbild so gestaltet, dass Wände – ebenso wie der Blick auf die Dinge und sich selbst – immer wieder in unterschiedlichem Licht erscheinen. Projektionen, Schatten, Trugbilder. Auch Lopachin ist ein heimlicher Träumer. Er hat sich als Junge schon in die Gutsbesitzerin Ranjewskaja verliebt. Die aber merkt das nicht einmal und wedelt selbstvergessen lächelnd vor seiner Nase mit Telegrammen ihres Lovers aus Paris.

Alles dreht sich um die Einsamkeit des Menschen

Astrid Meyerfeldts Gutsbesitzerin schwebt immer ein bisschen über der Erde, den Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Kostümbildnerin Thea Hoffmann-Axthelm kleidet die Schauspielerin, als verkörpere sie den im Enzyklopädischen Wörterbuch vermerkten Garten, der wunderschön ist, aber ganz ohne praktischen Nutzen. Meyerfeldts Ranjewskaja trägt Kirschrot, Blütenweiß, Blattgrün. Ein anrührendes, ätherisches Wesen, dem spätestens seit dem Tod des kleinen Sohnes der Bezug zur Wirklichkeit verloren gegangen ist. Ein leerer Blick auch, als ihre Tochter Anja (Anna Gesa-Raija Lappe) sie nach dem Verkauf des Gartens tröstet, sie könnten doch anderswo neu anfangen.

Mit dieser optimistischen Ansprache aus dem dritten Akt beschließt Borgmann die knapp dreieinhalbstündige Inszenierung. Der vierte und letzte Akt hatte den Abend eröffnet. Naiv oder eine kluge Finte? Der Regisseur entlässt den Zuschauer zwar mit der Hoffnung auf eine mögliche Verbesserung der Welt. Doch das erste Bild des Abends wirkt länger nach als dieser Schluss. Rosafarbenes Licht, alle liegen auf dem Boden, kuschelnd. Astrid Meyerfeldt geht mit verwundertem Kindergesicht die Wand entlang. Als die Gestalten schlaftrunken aufstehen, um nach dem Verkauf des Kirschgartens das Gut zu verlassen, zeigt sich: Jeder gibt vor, froh und zufrieden zu sein, keiner hat aus dem Kirschgartendesaster gelernt. Es geht hier weniger um Kapitalismuskritik. Alles dreht sich um die Einsamkeit der Menschen und ihr Unvermögen, sich einer unangenehmen Wahrheit zu stellen. Auch wenn nicht alle albtraumhaft leuchtenden Szenen so gut gelingen, ist die Psychostudie fein gearbeitet. Die Verneigungen des Regisseurs vor seinem Ensemble bei ausgiebigem Applaus sind absolut nachvollziehbar.

Die nächsten Termine: 17., 22., 30. April, 11., 14., 26. Mai, 2., 7., 26. Juni. Karten unter 07 11 / 20 20 90