Lange waren die Häuser an der Willy-Brandt-Straße besetzt - danach standen sie leer und verfielen. Daran änderte auch die Tatsache nichts, ... Foto: Kraufmann

Die Stuttgarter erleben augenblicklich die fünfte Welle eines Abrissfurors in ihrer Stadt.

Stuttgart - Stuttgarts Stadtbild erzählt von vielen Verlusten. Derzeit erleben wir die fünfte Welle des Abrissfurors in unserer Stadt, die ihren Ruf als Abrisshochburg weiter festigt. Und dies in einem Land, in dessen Verfassung der Schutz des kulturellen Erbes verankert ist und das Denkmalschutz zur Staatsaufgabe erklärt.

Die erste Welle der Zerstörung brachten die Bomben des Zweiten Weltkriegs, die zweite rollte nach 1945 über die Stadt, als Ruinen großzügig beseitigt wurden und für die Stadtautobahnen der Grundriss der Stadt zerstört wurde. Die dritte Abrisswelle kam Ende der 1950er Jahre. Viele der da noch übrig gebliebenen, auch unter offiziellem Denkmalschutz stehende Gebäude, die wichtig für das Stadtbild waren, verschwanden. Neben dem Kaufhaus Schocken und dem Kronprinzenpalais waren das auch weniger bekannte Gebäude wie das Steinhaus, das älteste Haus der Stadt, das Haus des Kunstvereins an der Schellingstraße, die gut erhaltene Rathausruine, das Ständehaus, die Akademie hinter dem Schloss, Teile des Bohnen-, des Heusteig-, des Gerber-, des Hospitalviertels, die Bebauung an der Fritz-Elsas- und der Roten Straße.

Ein Geist, der sich von den 1980er Jahren an ausbreitete und der nur für eine wirtschaftliche Betrachtung offen ist, brachte die vierte Welle. Unter ihren Opfern: die Gebäude an der Willy-Brandt-Straße, an der Hermannstraße das Industriedenkmal Gaskessel. Mit Mühe verhindert werden konnte der Abbruch des Bosch-Areals, des Alten Schauspielhauses, des Neuen Lusthauses.

Der hohe Wert des Denkmalschutzes wurde in den vergangenen Jahren durch viele Faktoren gemindert, vor allem durch das Verwaltungsreformgesetz 2004, das ihn degradierte zu einer "politischen und sachfremden Einflüssen ausgesetzten, zu einer disponiblen Sache". Denkmäler sind damit Objekte, die fast ausschließlich unter ökonomischen und tagespolitischen Aspekten betrachtet werden. Der Abrissbirne wird es immer leichter gemacht. Das Denkmal, ein stummer Patient? Es ist das Gedächtnis unserer Stadt, macht ihre Persönlichkeit, ihre Atmosphäre aus; wir Menschen in ihr sind die Hauptleidtragenden.

Nun rollt die fünfte Welle. Beispiele finden sich nicht nur unter den berühmten, durch Stuttgart 21 bedrohten Kulturdenkmälern wie Hauptbahnhof und Schlossgarten, gefährdet sind auch 15 weitere Objekte wie das geschichtsträchtige Hotel Silber. Im Sinne des Denkmalschutzgesetzes (DSchG) "sind Kulturdenkmale Sachen, Sachgesamtheiten und Teile von Sachen, an deren Erhaltung aus wissenschaftlichen, künstlerischen oder heimatgeschichtlichen Gründen ein öffentliches Interesse besteht".

Das Bosch-Areal wurde viel zu spät unter Denkmalschutz gestellt

Diese unscharfe Definition wird von Behörden meist einschränkend interpretiert und nach konservativ-konventionellen, ökonomischen, bestenfalls kunsthistorischen Kriterien beurteilt. Die "Denkmalschwelle" wird immer niederer. Die offizielle Denkmalpflege ist aus vielen Gründen oft nicht in der Lage, unabhängig zu entscheiden. Anfragen, die nicht den konventionellen Kriterien entsprechen, werden meist mit der wiederkehrenden Antwort beschieden, "es handelt sich nicht um ein Kulturdenkmal nach dem baden-württembergischen DSchG". Eine Stadt, ihr Charakter und ihre Bedeutung bestehen jedoch nicht nur aus "Kulturdenkmalen nach DSchG", sondern vor allem aus stadtprägenden Gebäuden, aus Räumen, die nicht der Definition des Gesetzes entsprechen, an deren Erhalt jedoch aus kultur-, zeit-, stadtgeschichtlichen und anderen Gründen größtes Interesse bestehen müsste. Es ist der qualifizierte Alltag, der die Städte, unsere Stadt prägt, nicht das spektakuläre Objekt.

Das Bosch-Areal, das Alte Schauspielhaus wurden spät, fast zu spät unter Denkmalschutz gestellt, das Kaufhaus Schocken und viele andere Objekte gar nicht. Zudem werden Straßen-, Platz- und Außenräume selten unter Schutz gestellt. Sie werden nur "soweit sie für das Erscheinungsbild (von Kulturdenkmalen) von erheblicher Bedeutung sind" mit betrachtet, sind meist Abfallprodukt. Entsprechend vernachlässigt sieht der öffentliche Raum aus. Vor diesem Hintergrund kündigt sich die fünfte Welle an, belegt nicht nur an Kulturdenkmalen nach DSchG, sondern vor allem an bescheidenen, dem qualifizierten Alltag zugehörenden und den Charakter der Stadt maßgeblich beeinflussenden Beispielen:

Da soll die von 1928 bis 1930 realisierte, quartierprägende, bedeutsame Wohnanlage Wagenburgstraße 149-153 abgerissen und durch Neubauten ersetzt werden. 1976 ausgezeichnet, ist sie auch im "Architekturführer Stuttgart" aufgeführt. Das Gebäude dokumentiert ein Stück Stuttgarter Arbeiterbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und deren soziales Engagement. Eigentümer des Wohnhauses ist der traditionsreiche Bau- und Heimstättenverein Stuttgart, der in den 1920er und 1930er Jahren weitere bemerkenswerte Wohnanlagen erstellte wie den unter Denkmalschutz stehenden Friedrich-Ebert-Block am Hölzelweg. Die Anlage Wagenburgstraße steht nicht unter Denkmalschutz, nicht zuletzt, weil kaum in ihre laufende Unterhaltung investiert wurde. Sie weist gute Grundrisse sowie selten anzutreffende Detailqualitäten an den Eingängen, Geländern und Balkonen auf. Ihr Architekt Karl Beer, der auch das Gewerkschaftshaus an der Willi-Bleicher-Straße entwarf, war in den 1920er Jahren Fraktionsvorsitzender der SPD im Gemeinderat und in dieser Funktion maßgeblich an der politischen Durchsetzung der Weißenhofsiedlung beteiligt.

Nächstes Opfer: das denkmalgeschützte, 1925/26 von Hans Daiber geplante Institut für physikalische Chemie der Technischen Hochschule (TH) im Azenbergareal an der Wiederholdstraße 15. Das später als Landesgesundheitsamt genutzte, nun leer stehende und dem Verfall preisgegebene Gebäude will das Land verkaufen, es soll abgerissen und durch Neubauten ersetzt werden. Es ist quartierprägend, mit guten Proportionen. Mit dem Nebenhaus, das Heinrich Jassoy 1900 mit neubarocken Elementen als physikalisches Institut der TH entwarf, bildet es ein zeittypisches Ensemble im Erweiterungsareal der damaligen TH.

Roland Ostertag lebt und arbeitet als Architekt in Stuttgart. Weitere Abrissopfer nennt er im zweiten Teils seines Beitrags "Vom Umgang mit Denkmälern".