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Die Stuttgarter erleben gerade die fünfte Welle eines Abrissfurors in ihrer Stadt.

Stuttgart - Stuttgarts Stadtbild erzählt von vielen Verlusten. Derzeit erleben wir die fünfte Welle des Abrissfurors in unserer Stadt, der ihren Ruf als Abrisshochburg weiter festigt. Ihre Opfer sind vor allem bescheidene, dem qualifizierten Alltag zugehörende und den Charakter der Stadt maßgeblich beeinflussende Gebäude.

Als "seltenes Beispiel eines frühgründerzeitlichen Geschäftshauses in Stuttgart" steht das spätklassizistische Gebäude in der Eberhardstraße 65 unter Denkmalschutz, 1876 nach Plänen des Architekten Albert Eugen errichtet. Doch dem großstädtischen, den Charakter der Straße prägenden Gebäude wird nun durch die Bewilligung, die Fassade nach Erstellung eines Neubaus zu rekonstruieren, der letzte Rest an zeitgeschichtlicher Aussage genommen. Nicht nur der Krieg, auch unsensible Baumaßnahmen danach haben dem Gebäude vor allem im Inneren zugesetzt. Und so fragt man sich, warum zuständige Ämter und Architekten bis heute nicht darauf geachtet haben, möglichst viel von der historischen Substanz zu erhalten? Stuttgart ist wahrlich arm an guten Beispielen aus jener Zeit, in der sich die kleine Residenzstadt rasant zur Großstadt der Industrialisierung entwickelte.

Nur noch wenige Beispiele innerstädtischer Villenkultur

Da ließ man, Eigentümer ist der Bund, die Villa samt Nebengebäude und Gartenloggia des Privatiers Arthur Bohnenberger an der Olgastraße 9-11 jahrelang vergammeln. Vor Jahren erstellte man ein Schutzgerüst gegen herabfallende Fassadenteile, anstatt den Zerfallsprozess zu stoppen. Erst jüngst wurde die sich auflösende Fassade verhängt - wird saniert? Die Anlage ist aus mehreren Gründen erhaltenswert: Mit der dazugehörigen Gartenloggia, hinter der ein herrschaftlicher Stadtgarten vor Jahren in einen Parkplatz verwandelt wurde, und den angrenzenden Gebäuden, vor allem der Olgastraße 13 (erbaut 1914 als Königliches Kriegsministerium nach einem Entwurf von Heinrich Graser), wird noch heute eine Ahnung einer großstädtischen Straße vermittelt.

Der Neorenaissance-Palazzo ist eines der wenigen noch erhaltenen Beispiele der innerstädtischen Villenkultur des sich im 19. Jahrhundert rasch zur Großstadt entwickelnden Stuttgarts. Geplant wurde er 1869-72 von Carl Friedrich Beisbarth, dem Architekten, der mit dem Teilabbruch des Neuen Lusthauses beauftragt wurde. Da er von der Bedeutung des Renaissance-Baus überzeugt war, erstellte Beisbarth vor dem Abbruch 1844/45 eine über 500 Blätter umfassende Bauaufnahme mit höchst qualifizierten und präzisen Zeichnungen.

Regierungspräsidium hebt Denkmalschutz auf

Neubauten weichen sollen auch die ältesten Arbeiterwohnbauten Stuttgarts in der Adler- und Möhringer Straße in Heslach. Geplant wurden sie 1873 von Wilhelm Pfäfflin im Auftrag der Stuttgarter Gemeinnützigen Baugesellschaft; Eigentümer heute ist der Bau- und Wohnungsverein Stuttgart. In vorauseilendem Gehorsam vor der Abrissbirne wurde der bestehende Denkmalschutz vom Regierungspräsidium aufgehoben.

Der beabsichtigte Abriss wird vom Eigentümer mit maroder Substanz sowie haus- und bautechnischen Defiziten begründet; Augenscheinnahme von außen und innen widerlegt diese Aussagen. Die Gebäude machen einen guten, soliden, auch im Inneren anständigen und wohnlichen Eindruck. Städtebaulich und architektonisch sind sie betont schlicht, bescheidene Alltagsbauten in unverwechselbarer Qualität. Durch Standort wie Mieterstruktur leistet das Ensemble noch heute "einen erheblichen Beitrag zur sozialen Stabilisierung in Heslach", sagt SPD-Beirat Reinhard Kühn.

Abriss Messe Killesberg: Der Stadt fehlt die Sensibilität

Das Messegelände Killesberg wurde durch die restlose Beseitigung der Bebauung in eine Brache verwandelt. Ein Teil der Bebauung der 1980er Jahre, die Messehalle 6 von Hellmut Weber, die Reste der Halle 7, die auf den Fundamenten der Blumenhalle der Reichsgartenschau errichtet wurde, in der Tausende Menschen jüdischen Glaubens zusammengetrieben und von dort in den Tod deportiert wurden, das Relief "Weinfreuden" des Bildhauers Alfred Lörcher von 1949 wären wert gewesen, vor Ort erhalten zu werden, um den Menschen die Geschichte des Areals zu vermitteln. Doch dafür fehlt in dieser Stadt die erforderliche Sensibilität.

Und so soll es weitergehen. Nach dem Motto: Der Nächste bitte! Die Areale für das Quartier S an der Tübinger/Paulinenstraße, für das Da-Vinci-Quartier am Karlsplatz sollen restlos geräumt, der Bestand abgerissen werden. Selbst das Hotel Silber, Sitz der Gestapo-Leitstelle bis 1945, Inbegriff der NS-Schreckensherrschaft in Stuttgart, soll dran glauben.

Alles muss sich rechnen

Unsensibler, geschichtsloser geht es nicht. Bis Beginn des 20. Jahrhunderts wurden je Generation maximal fünf Prozent der bestehenden Bebauung abgerissen und durch Neubauten ersetzt und damit die räumliche, die soziale, die geschichtliche Kontinuität der Stadt gewährleistet. Durch den Krieg wurden in wenigen Jahren bis zu fünfzig Prozent der Substanz vernichtet. Doch anstatt nach 1945 innezuhalten und sich darauf zu besinnen, mit dem noch Bestehenden sorgsam umzugehen, wurde der Abriss-Furor in den vergangenen Jahrzehnten noch gesteigert. Heute werden in vielen Städten, Stuttgart mit an der Spitze, je Generation bis zu fünfzig Prozent der bestehenden Bebauung ausgewechselt. Die Auseinandersetzungen zwischen quantitativen, wirtschaftlichen Interessen und qualitativen Werten werden fast immer zuungunsten der Letzteren entschieden. Die Technokraten- und Investorenmoderne kennt nur "rationale" Werte: Alles muss sich rechnen. Mit dem Verlust der Orte und Gebäude gehen auch die Räume und Raumfolgen, gehen der Charakter, das emotionale Stadterlebnis, die Stadt als Lesebuch, auch unsere Geschichte verloren.

Wir müssen unsere Stadt wiederentdecken

Eine Haltung ist am Werk, für die Geschichte und atmosphärische Qualitäten keine Werte darstellen. Ergebnis ist der unwiederbringliche Verlust des individuellen und kollektiven Gedächtnisses, des Stuttgart-typischen Charakters der Stadt. Mit dem Verlust der Außen- und Innenbilder, dem Verlust der Erzählfähigkeit entsteht eine ortlose, entzauberte Welt. Die Menschen wohnen in ihr, aber sie sind nicht in ihr zu Hause.

Wir sollten die Gefährdungen als Chance wahrnehmen, unsere Stadt wieder zu entdecken, zu bewahren, ja zu lieben. Die Hoffnung gilt der Imagination von Städten: Es könnten aus unserem Lebensgefühl, aus dem Verlangen nach einem emotionalen Stadterlebnis neue städtische Träume und neue städtische Räume entstehen. "Vielleicht hofft es in uns", fragt Wolfgang Hildesheimer am Ende seiner Auseinandersetzung mit Mozarts Requiem. Eigentlich alles ganz einfach, man muss es nur wollen.

Unser Autor Roland Ostertag lebt und arbeitet als Architekt in Stuttgart.