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Körperliche Nähe: Corona führt zu

Kaum körperliche Nähe: Die Leiterin der Sozialstation beochachtet regelrechte Entzugserscheinungen. Die Leiter der Pflegeeinrichtungen widersprechen dieser These.

Wie kommen demente Menschen durch die Corona-Krise? Bianca Beha, Geschäftsführerin der Sozialstation Donaueschingen, umreißt die Situation mit zwei Worten: "eine Katastrophe".

Donaueschingen (wur). Denn die "Damen und Herren", wie sie ihre dementen, in den Familien gepflegten Schützlinge nennt, verstünden gar nicht, was derzeit passiere.

Wo Familienangehörige aus Angst, den Dementen mit Corona anzustecken, den körperlichen Kontakt einschränken und sich eine herzliche Umarmung auf ein Winken von der Türschwelle aus reduziert, fehle nicht nur das Verstehen. Viel bedeutsamer sei ein regelrechter Entzug körperlicher Nähe. Anderswo lebende Familienmitglieder, Freunde, Partner kommen nicht mehr zu Besuch, herzliche Berührungen bleiben aus, auch die Beschäftigung mit den Dementen leidet.

Hier entwickle sich ein "Drama", beobachtet Bianca Beha. Denn wo die Ansprache fehle, verlören die an Demenz Erkrankten sehr schnell auch die letzten kognitiven Fähigkeiten. Die Demenz verschlimmere sich schneller. Der Spagat zwischen dem Schutzgedanken und dem stillen Leiden der dementen Angehörigen führe innerhalb mancher Familien zu großen emotionalen Belastungen.

Rund 300 Patienten betreuen die 24 Pflegefachkräfte des 60 Mitarbeiter umfassenden Teams der Sozialstation jeden Tag. Die Arbeit erfolgt unter den vorgeschriebenen Hygiene- und Abstandsbestimmungen. "Also mit Maske und Handschuhen, mitunter auch Schutzschild", verdeutlicht die Geschäftsführerin. Wenn die Dementen eine vertraute Pflegekraft in dieser befremdlichen Montur nicht erkennen, reagieren sie ängstlich, die Arbeit wird erschwert.

Im Schichtplan ließen sich diese Erschwernisse durch eine lockerere Taktung aber nicht abbilden. Mitunter können Haushalts-Helferinnen stärker eingebunden werden; Sie bleiben aber ohne direkten Kontakt zu den Dementen. "Alle geben ihr Bestes", stellt sich Bianca Beha vor ihr Team.

Zu den Arbeitsbedingungen gehören mindestens zwei Corona-Tests pro Woche, zu den Einschränkungen eine erschwerte Team-Absprache. Seit einem Jahr gibt es am Standort an der Friedrich-Ebert-Straße – corona-geschuldet – auch keinen Raum mehr, der Dienstbesprechungen unter dem Abstandgebot zuließe.

Für Markus Bonserio, Leiter des Pflegeheims St. Michael an der Prinz-Fritzi-Allee, stellt die Betreuung der dementen Bewohner eher ein marginales Problem dar. Die Mitarbeiter werden zwei- bis dreimal pro Woche getestet, Bewohner ebenso. Wenn sich Besuch ansagt, wird er ebenfalls durch eigene Kräfte von St. Michael auf Corona getestet.

Körperliche Kontakte fehlten den dementen Bewohnern nicht seiner Ansicht nach nicht. Diese ließen sich, etwa bei der Körperpflege, nicht vermeiden oder würden quasi eingefordert. "Versuchen Sie mal, sich von einem Demenzkranken nicht umarmen zu lassen", kommentiert er. Der von den Corona-Bestimmungen befohlene Abstand zwischen den Verwandten schrumpft mitunter; einfach aus menschlichen Gründen.

Die Betreuung von dementen Menschen sei in einer reinen Demenzgruppe einfacher, sagt der erst seit drei Monaten in St. Michael agierende Heimleiter. In einer solchen Gruppe falle ungewöhnliches Verhalten nicht auf. Anders in einer gemischten Gruppe. Es komme zu Streit zwischen psychisch Kranken und Gesunden, das Personal müsse schlichten. Mit Corona habe das aber nichts zu tun.

Anregung schrumpft

Gemeinsam sei den 13 Menschen im Demenz-Bereich und den weiteren 156 Bewohnern – darunter die Hälfte von ihnen in verschiedenen Stadien der Demenz – das schmerzliche Vermissen von Feiern und Festen. Diese seien als geistige Anregung eine willkommene Abwechslung im Jahresablauf in St. Michael. Mehr Sorgen macht Markus Bonserio die derzeit unbefriedigende Impfsituation. Nach einem Corona-Ausbruch im Heim Ende 2020 mussten Bewohner und Mitarbeiter bisher einen mehrmonatigen Abstand zu einem Impftermin einhalten. Die Folge: Rund die Hälfte der 156 Mitarbeiter und die Hälfte der Heimbewohner ist nicht geimpft. Mühselig müssen jetzt Termine gesucht werden.

"Gute Besuchsregelung"

Emotionale Defizite bei dementen Heimbewohnern kann Reiner Krummradt nicht feststellen. Der Leiter des Wohnpflegezentrums Donauresidenz sieht eher das Gegenteil. Demente und gesunde Senioren leben in keinen getrennten Bereichen. "In der Gemeinschaft, beim Spielen und bei Gesprächen blühen die Dementen auf", beobachtet Krummradt.

Mit ihren Einschränkungen würden die dementen Mitbewohner von den gesunden Mitbewohnern akzeptiert: "Sie wissen, dass denen das auch jeden Tag passieren kann", vermutet Krummradt mit einen Grund. Zudem habe die Einrichtung eine gute Besuchsregelung gefunden. Der Besuch werde von der Station getrennt, die Bewohner empfangen ihre Gäste in einem gesonderten Raum: durch Spuckschutz getrennt und auf 30 Minuten beschränkt.

18 Pflegekräfte betreuen im Wohnpflegezentrum an der Hagelrainstraße 32 Heimbewohner. Zwei Drittel von ihnen seien leicht oder mittelschwer an Demenz erkrankt. An körperlicher Nähe gäbe es bei den Bewohnern kein Defizit, sagt Krummradt. Gäbe es Hinweise von Verwandten oder vom Personal beobachtete Auffälligkeiten könne man sofort gegensteuern.

Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft berichtete Mitte 2020, dass nach neuesten Berechnungen in Deutschland derzeit rund 1,6 Millionen Menschen mit einer Demenzerkrankung leben. Die meisten von ihnen seien von der Alzheimer-Krankheit betroffen. Durchschnittlich treten Tag für Tag etwa 900 Neuerkrankungen auf. Sie summieren sich im Lauf eines Jahres auf mehr als 300 000. Infolge der demografischen Veränderungen kommt es zu weitaus mehr Neuerkrankungen als zu Sterbefällen unter den bereits Erkrankten. Aus diesem Grund nehme die Zahl der Demenzkranken kontinuierlich zu.