„Die Auferstehung des Lazarus“, Grafik von Gustave Dore (1832-1883) aus dem Jahr 1870. Foto: Imago/Heritage-Images

Wenn ein Mensch stirbt, hört sein Herz auf zu schlagen. Ärzte erklären ihn kurz danach für tot. Doch nach einer gewissen Zeit fängt das Herz plötzlich wieder an zu schlagen. Lazarus-Phänomen nennen Mediziner solche Ausnahmefälle. Sie sind äußerst selten – und doch gibt es sie.

Der Tod ist der definitive Verlust aller Lebensfunktionen, das Sterben der Übergang vom Leben zum Tod, der eingetretene Tod der „Exitus letalis“ - der tödliche Ausgang. „Nichts ist gewisser als der Tode, nichts ungewisser als seine Stunde“, apostrophiert der Theologe und Philosoph Anselm von Canterbury (1033-1109).

 

Stimmt! Doch was, wenn der Moment des Sterbens nicht der Moment des Todes ist?

Tot und doch nicht tot?

Jesus lässt Lazarus aus dem Grab wiederauferstehen, Grafik um 1880. Foto: Imago/Heritage-Images
Grabfiguren auf dem Melaten-Friedhof in Köln. Foto: Imago/Panama-Pictures

Hinter dieser kryptischen Aussage verbirgt sich eine gruselige Vorstellung: Ärzte erklären einen Patienten für tot. Kurze Zeit später wacht dieser auf dem Obduktionstisch wieder auf. Unmöglich? Nein! Aber sehr selten.

In der Medizin wird dieser Vorgang als Lazarus-Phänomen oder Lazarus-Syndrom bezeichnet – benannt nach dem biblischen Lazarus aus Bethanien, der von Jesus von den Toten auferweckt wird (Johannesevangelium, 11, 1-44).

Ist das Lazarus-Phänomen ein medizinisches Wunder?

Erweiterte Wiederbelebung durch einen Rettungsarzt, simuliert an einer Puppe. Foto: Imago/Yay Images

Das Lazarus-Phänomen tritt bei Menschen mit Herz-Kreislauf-Stillstand ein, die nach erfolglosen notfallmedizinischen Maßnahmen anhand von unsicheren Todeszeichen – wie zum Beispiel Abkühlung des Körpers, Leichenblässe, Puls nicht mehr nachweisbar - und einer Nulllinie im Elektrokardiogramm (EKG) für klinisch tot erklärt wurden. Und dann setzen wie aus dem Nichts ihr Kreislauf und ihre Atmung plötzlich wieder ein.

In der Notfallmedizin spricht man auch von einer erweiterten Wiederbelebung durch professionelle Helfer – die sogenannte kardiopulmonale Reanimation. Ein medizinisches Wunder? Vielleicht! Aber eines, das sich rational und wissenschaftlich erklären lässt.

Warum muss beim Lazarus-Phänomen das Herz stillstehen?

Wenn ein Mensch gestorben ist, wird er bei einer Nulllinie im Elektrokardiogramm (EKG) für klinisch tot erklärt. Foto: Imago/Zoonar

Bei diesem extrem seltenen Phänomen müsse „das Herz über einige Zeit stillgestanden habe“, erläutert der Forensiker Klaus Püschel, der bis 2020 Institutsdirektor am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) war. In Ausnahmefällen könne es aber trotzdem wieder anfangen zu schlagen.

Wichtig für die Leichenschau-Routine sei deshalb, dass der Tod eines Menschen zunächst anhand von sicheren Todeszeichen wie Leichenflecken, Leichenstarre, Leichenfäulnis und nicht mit dem Leben vereinbaren Verletzungen festgestellt werden müsse, betont Püschel.

„Die ersten 20 Minuten nach einem Kreislauf-Stillstand sind eine unsichere Zeit. Da muss man im Zweifelsfall immer reanimieren“, so Püschel weiter. Erst wenn die Reanimation sicher erfolglos sei, könne man den Vorgang abbrechen. Allerdings: „Was sicher erfolglos heißt, darüber gibt es eben keine ganz strengen Kriterien.“

Wie häufig ist das Lazarus-Phänomen?

Warum zeigen Menschen, die erfolglos wiederbelebt wurden, wieder Lebenszeichen? Das Lazarus-Phänomen ist für die moderne Wissenschaft immer noch ein Rätsel. Zur Häufigkeit gibt nur eine einzige Studie Hinweise, die 2020 im „Scandinavian Journal of Trauma, Resuscitation and Emergency Resuscitation“ veröffentlicht worden ist.

Ein internationales Team aus Notfallmedizinern des University Hospitals Morecambe Bay Trust (Großbritannien), des Universitätsspitals Lausanne (Schweiz), des Bozner Forschungszentrums Eurac Research (Italien) und der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg (Österreich) hatte – zum ersten Mal überhaupt – alle in der medizinischen Fachliteratur publizierten Fälle im Bereich der kardiopulmonalen Reanimation systematisch analysiert.

Tritt das Lazarus-Phänomen vielleicht doch häufiger auf?

Ein Intensivbett in einer Intensivstation der Uniklinik Dresden. Links neben dem Bett steht eine Herz-Lungen-Maschine, oben die Überwachungsmonitore für die Vitalfunktionen. Foto: Imago/Max Stein

Weltweite Umfragen unter Anästhesisten und Intensivmediziner ergaben, dass 37 bis 50 Prozent der Befragten schon einmal ein Lazarus-Phänomen erlebt hatten. Die vier Forscher Les Gordon, Mathieu Pasquier, Hermann Brugger und Peter Paal fanden bei ihrer Durchforstung der gesamten medizinischen Literatur, in der das Phänomen 1982 erstmals beschrieben wird, insgesamt 65 dokumentierte Fälle. „Wir vermuten aufgrund unserer Analysen, dass das Lazarus-Syndrom viel häufiger auftritt als es in der Literatur aufscheint“, erklärt der britische Notfallmediziner Les Gordon.

Von den 65 beschriebenen Fällen hatte ein Drittel (22 Personen) den Kreislaufstillstand überlebt, 82 Prozent davon – also 18 Patienten – ohne neurologischem Dauerschaden. „Auch wenn es wenige scheinen, sind die Konsequenzen doch beträchtlich, wenn man an das beteiligte medizinische Personal, die Angehörigen, die rechtlichen Konsequenzen und die tägliche Anzahl der Patienten denkt, die Wiederbelebungsmaßnahmen benötigen“, schreiben die Autoren.

Aufgrund ihrer Erkenntnisse gaben die Experten eine Reihe von Empfehlungen - darunter vor allem, nach Beenden einer Herz-Lungen-Wiederbelebung einen Patienten noch mindestens zehn Minuten mithilfe eines EKG zu beobachten und zu überwachen.

Was unterscheidet das Lazarus-Phänomen vom Scheintod?

Aus Geschichten von Scheintoten nährt sich die Angst davor, lebendig begraben zu werden. Foto: Imago/Funke Foto Services

Das Lazarus-Phänomen ist zudem etwas anderes als ein Scheintod. Bei einem Scheintoten hätten die behandelnden Ärzte nicht richtig untersucht und nach den sicheren Todeszeichen geschaut, konstatiert Püschel. „Davon gibt es ja viele oder vergleichsweise mehr Fälle, wenn man die sicheren Todeszeichen eben nicht richtig festgestellt hat und jemand voreilig für tot erklärt wird.“

Der vermeintlich Tote können tatsächlich eventuell Stunden in einem Zustand eines tiefen Komas verharren und dann wieder wach werden. Aus solchen Geschichten nährt sich die Angst davor, lebendig als Scheintoter begraben zu werden – die sogenannte Taphophobie.

Warum ist das Lazarus-Phänomen unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich?

„Lazarus-Phänomene kommen vor allen Dingen in der Wiederbelebung vor. Deswegen sage ich immer: Man darf nie zu früh aufgeben“, erklärt Bernd Böttiger, Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin der Uniklinik Köln.

Für ihn gilt: Lieber länger wiederbeleben als kürzer. Tatsächlich könne man auch nach zwei oder gar drei Stunden noch erfolgreich wiederbeleben. „Es wird allerdings immer unwahrscheinlicher, wenn sich jemand nach 20 oder 30 Minuten nicht stabilisiert hat“, sagt Böttiger. Unwahrscheinlich bedeute allerdings nicht unmöglich.