"Es wäre ein neuer Generationenvertrag, bei dem die Jüngeren arbeiten gehen, die Infektion auf sich nehmen, während die Älteren und Kranken auf soziale Kontakte verzichten", so Boris Palmer. Foto: dpa

Vorschlag von Tübingens OB Boris Palmer stößt auf Kritik. Vorwurf: Stigmatisierung und mangelnde Solidarität.

Tübingen - Tübingens OB Palmer eckt nicht selten an mit seinen Ideen. Nun bringt er einen umstrittenen älteren Vorschlag erneut auf den Tisch. Ältere und Kranke würde er gerne bald isolieren, Jüngere wieder zur Arbeit schicken. Ein schrittweiser Exit, der vor Gericht enden könnte.

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Das Coronavirus kennt keine Altersgruppen. Die Infektionskrankheit befällt ältere Menschen und jüngere. Vor allem bei Senioren ist es aber wahrscheinlicher, dass sie schwer krank werden oder sogar sterben. Um sie geht es in der Debatte um einen nach Altersklassen gestuften Exit aus dem Corona-Shutdown. Um die Senioren - und um die Wirtschaft, die unter den Folgen der drastischen Einschränkungen seit Wochen leidet.

Auch deshalb hat der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) trotz harscher Kritik vor allem aus der eigenen Partei seinen Vorschlag erneuert, die Corona-Risikogruppe kranker und älterer Menschen von anderen zu trennen. "Es ist eine Option, die viele Nachteile hat", sagt er der dpa. "Aber es gibt derzeit keine Option, die jeder gut findet."

Menschen ab 65 bleiben "eindeutig gefährdet"

Das geltende Kontaktverbot stellt der Kommunalpolitiker zwar derzeit nicht infrage. Aber es sei der richtige Zeitpunkt, Wege aus der Krise zu suchen, sagte der Rathauschef. Für alle, die nicht zur Risikogruppe gehörten, könne man die Einschränkungen schrittweise lockern, Menschen ab 65 seien aber "eindeutig gefährdet".

"Es wäre ein neuer Generationenvertrag, bei dem die Jüngeren arbeiten gehen, die Infektion auf sich nehmen, während die Älteren und Kranken auf soziale Kontakte verzichten", sagte Palmer auch der Zeitung "taz" (Montag/Berlin). Eine optimale Versorgung für die Alten und Kranken sei bereits für zehn Prozent der Kosten zu erreichen, die für die derzeit ruhende Wirtschaft nötig seien.

Palmers Vorschlag ist auf den ersten Blick nicht weit entfernt von einer Äußerung des Kanzleramtschefs Helge Braun. Dieser hatte Ende März im "Tagesspiegel" gesagt, ältere Menschen müssten noch deutlich länger als Jüngere mit Kontakteinschränkungen rechnen. "Eines ist allen Modellen gemein, egal, wie wir uns entscheiden: dass die älteren und vorerkrankten Menschen in unserer Gesellschaft wirksam vor einer Infektion geschützt werden müssen, bis es einen Impfstoff gibt", hatte Braun gesagt.

Impfstoff erst in einigen Monaten

Forscher erwarten einen Impfstoff erst in mehreren Monaten. Einige Experten sind sich aber sicher, dass zuvor ein Medikament auf den Markt kommen wird.

Mehrere Fachleute haben der Idee Palmers bereits eine Absage erteilt. Sie gehen unter anderem davon aus, dass Risikogruppen nicht mit absoluter Sicherheit geschützt werden können. Zudem rechnen sie mit stark steigenden Infektionszahlen auch außerhalb dieser abgeschirmten Gruppen, die dann wiederum die Krankenhäuser überlasten könnten. Zudem sei die Risikogruppe nicht ausreichend definiert. So rechnet zum Beispiel das Robert Koch-Institut (RKI) nicht nur Menschen über 70 zur Risikogruppe, sondern "ältere Personen ab 50 bis 60 Jahren".

Ein Sprecher des Staatsministeriums zeigte sich ebenfalls skeptisch: "Es geht da um 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung und einen möglicherweise monatelangen Zeitraum, bis ein Impfstoff vorhanden ist", sagte er. "Das ist nicht denkbar." Auch Parteifreunde Palmers haben sich schon vehement gegen eine Diskussion über diese Idee ausgesprochen. Die Grünen-Politikerin Renate Künast nannte den ersten Vorstoß Palmers "unsinnig". Noch deutlicher wird der langjährige Grünen-Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele: Er droht für den Fall einer Separierung mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Wie können Risikogruppen abgegrenzt werden?

Auch sonst schlägt Palmer Kritik entgegen: Der Arbeitgeberverband Baden-Württemberg ist zwar offen für konkrete Vorschläge zum Ankurbeln des Wirtschaftslebens, sobald sich die Lage stabilisiere. "Eine strikte Isolation, wie hier vorgeschlagen, halten wir hingegen allenfalls in wenigen, klar abgrenzbaren Bereichen für denkbar", sagte ein Südwestmetall-Sprecher. Als Beispiel nannte er Pflegeheime mit Höchstrisikogruppen. Außerdem sei es schwierig, die Risikogruppen allein über Alter und Zahl der Vorerkrankungen abzugrenzen.

Auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO) positioniert sich deutlich: Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens dürften nur nach gesellschaftlichen Bereichen wie Schulen ud Universitäten gelockert werden. "Kriterium darf dabei jedoch nicht das Lebensalter sein", sagt BAGSO-Geschäftsführer Guido Klumpp. Ältere Menschen dürften nicht gezielt ausgeschlossen werden. "Ziel muss es vielmehr sein, wieder die Infizierten zu isolieren und damit die Infektionsketten zu unterbrechen."

Caritas hält Zweiteilung für problematisch

Der Landesseniorenrat Baden-Württemberg warnte zudem vor einer Stigmatisierung. "Es sind erwachsene Menschen, die viele Krisen und Schwierigkeiten durchlitten haben. Und die wissen sehr wohl verantwortlich mit ihrer Gesundheit umzugehen", sagt der Landesvorsitzende Uwe Bähr. Die Caritas hält eine Zweiteilung für hochproblematisch und für ein "Signal, das der Solidarität widerspricht und uns nicht gut tut".

In Baden-Württemberg lebten Ende 2018 rund 2,23 Millionen Menschen, die 65 Jahre oder älter waren. Etwa 294.000 gehörten mit ihren 85 oder mehr Jahren zur Altersgruppe der Hochbetagten. Unter Ärzten gelten diese als besonders gefährdet.