Montagabend, Balinger Innenstadt: Zahlreiche "Spaziergänger ziehen durch die City. Dagegen regt sich Widerstand. Foto: Kauffmann

So kann’s, so darf es ja wohl nicht weitergehen: In einem offenen Brief wendet sich der Balinger Boris Rezulaff an die Balinger Stadtpolitik. Er wünscht sich, dass den nicht angemeldeten "Spaziergängen" etwas entgegengesetzt wird.

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Balingen - Adressiert ist das Schreiben an die Sprecher der Fraktionen im Balinger Gemeinderat, Klaus Hahn (CDU), Erwin Feucht (Grüne), Ulrich Teufel (SPD), Dietmar Foth (FDP) und Wolfgang Hallabrin (Freie Wähler). Anlass für sein Schreiben sei, so Retzlaff, die jüngste Stellungnahme zu den "Spaziergängen" von Erwin Feucht im Verwaltungsausschuss sowie die Antwort von Oberbürgermeister Helmut Reitemann, wonach der "relative Frieden" in der Stadt zu wahren sei.

"Bewegung nicht friedlich"

Wenngleich die Corona-Proteste in Balingen im Gegensatz zu anderen Städten ohne größere Störungen des öffentlichen Lebens abliefen, so Retzlaff, so sei die Bewegung, die sich dort treffe, nicht friedlich. Die Aufmärsche seien vielmehr bewusst provozierend und verletzten geltendes Recht. Aus den Reihen der sogenannten Querdenker seien vielfach Bedrohungen und Übergriffe auf Andersdenkende dokumentiert. In den einschlägigen Foren würden Gewalt- und Umsturzfantasien geäußert, oft auch gutgeheißen. Und nicht zuletzt versuchten offen demokratiefeindliche Gruppen, die Proteste für sich zu vereinnahmen. Ein besonders empörendes Beispiel dafür seien die in der Szene verbreiteten gelben "Ungeimpft"-Sterne, die eine inakzeptable Relativierung des Holocaust darstellten und dessen Opfer verhöhnten. "Mit Frieden bringe ich diesen Mob nicht in Verbindung", so Retzlaff, der betont, dass das Thema ihm als Balinger Bürger ohne parteipolitischen Hintergrund einfach ein Anliegen sei.

Unmut im Bekanntenkreis

Er stelle zudem in seinem Bekanntenkreis "einen wachsenden Unmut gegen diese Kundgebungen fest". Und er bezweifle, dass es dem "relativen Frieden" in der Stadt auf längere Sicht dienlich sei, "wenn sich die vernünftige und zurückhaltende Mehrheit der Bevölkerung von einer Gruppe Schreihälse allwöchentlich provozieren, beschimpfen und beleidigen lassen muss, ohne dass dem von offizieller Seite Grenzen gesetzt werden".

Ganz klar: Wie auch Oberbürgermeister Helmut Reitemann sei auch er der Meinung, so Retzlaff, dass man in einer Demokratie andere Meinungen aushalten müsse. In seinem Umfeld gebe es verschiedene Einschätzungen der Pandemie und unterschiedliche Bewertungen der getroffenen Gegenmaßnahmen. Er empfinde den Austausch darüber als bereichernd. Was jedoch aus der "Querdenker"-Szene zu hören sei, habe mit "Meinung" häufig nichts zu tun. Im Gegenteil seien es "überwiegend absichtliche Fehlinterpretationen und irreführende Tatsachenbehauptungen, anders ausgedrückt: "Lügen hinsichtlich der Gefährlichkeit (beziehungsweise Existenz) der Krankheit, Lügen bezüglich der Risiken der Impfung, Lügen bezüglich der Wirksamkeit und Ziele der beschlossenen Maßnahmen." Eine solche Realitätsverweigerung möge eine Art Lebenshaltung sein, jedoch keine diskussionswürdige "Meinung" im demokratischen Sinne, so Retzlaff.

"Lügen sind gefährlich"

In Pandemie-Zeiten seien diese Lügen obendrein gefährlich, "sie können buchstäblich Leben kosten". "Außerdem erodieren sie unsere demokratischen Werte, wo sie in Verschwörungsfantasien und eine pauschale Verächtlichmachung des Staates und seiner Organe münden."

Er finde es fadenscheinig, so Retzlaff weiter, wenn der Oberbürgermeister die Untätigkeit der kommunalen Behörden mit der grundgesetzlich garantierten Versammlungsfreiheit begründe. Denn diese sei im Versammlungsgesetz ausbuchstabiert, das bestimmte Standards setze – unter anderem die rechtzeitige Anmeldung und die Zusammenarbeit mit den Behörden. Hinter der Form der vorgeblich unorganisierten "Spaziergänge" sehe er das Kalkül, als "Spontanversammlung" im Sinne des Versammlungsgesetzes angesehen zu werden. Dagegen spreche jedoch allein schon die Regelmäßigkeit der Durchführung. "Ich halte also fest: Balingen bietet allwöchentlich einer aggressiven und gefährlichen Szene einen Treff- und Sammelpunkt." Die Treffen dienten der physischen Selbstvergewisserung, dem Erleben von Stärke in der Gruppe und somit einer weiteren Radikalisierung der Teilnehmer. Insofern seien sie weder folgen- noch harmlos: "Sie tragen wesentlich dazu bei, dass ein wachsender Teil der Bevölkerung unsere gemeinsame Realität verlässt und pauschal verweigert. Das kann uns nicht egal sein. Das gefährdet die Grundlage unseres Zusammenlebens."

Balingen soll sich Ruck geben

Andere Städte hätten sich längst positioniert und das Treiben unterbunden, so Retzlaff. Pauschale kommunale Versammlungsverbote gegen die "Spaziergänge" seien unlängst vom Bundesverfassungsgericht vorerst gebilligt worden, seien also bis zum Abschluss des Hauptverfahrens in der Sache rechtskonform. "Spätestens mit dieser Entscheidung sollte sich auch Balingen einen Ruck geben", fordert Retzlaff. Es sei ihm als Balinger "peinlich, dass meine Heimatstadt inzwischen als Hotspot der Querdenker-Szene gilt". Ein Jahr vor der Landesgartenschau werde das städtische Image möglicherweise "nachhaltig gefährdet".

Deswegen bitte er die Fraktionsvorsitzenden darum, die Verwaltungsspitze und das Ordnungsamt dahin zu bewegen, die rechtlichen Möglichkeiten gegen die "Spaziergänge" auszuschöpfen. Der Idealfall wäre seiner Meinung nach ein Veranstaltungsverbot. Zumindest aber sollte die Stadt die Kontrolle und Durchsetzung der allgemein gültigen Auflagen zum Infektionsschutz sowie die Dokumentation und Anzeige volksverhetzender Inhalte zum Ziel haben. "Bitte lassen Sie nicht zu, dass montagabends in der Balinger Innenstadt ein rechtsfreier Raum geduldet wird."

Mit Informationen entgegenwirken

Außerdem wäre es, sofern man nicht den Mut zu einem Verbot aufbringe, schön, so Retzlaff, "wenn die Stadt der Desinformation mit sachlicher Information entgegenwirken würde." Er könne sich beispielsweise eine Projektion aufs Rathaus vorstellen, die während der "Spaziergänge" zum Beispiel Daten zu Pandemie, Infektionsschutz und Impfung zeigen, vielleicht ergänzt durch eine entsprechende Beschallung des Marktplatzes.