Corona-Krisenmanager: Winfried Kretschmann Foto: dpa/Marijan Murat

Kann man das riskieren? In Kreisen mit einer Corona-Inzidenz von unter 50 dürfen die Läden wieder aufsperren. Dem Regierungschef ist bei der Öffnung etwas mulmig zumute, er droht mit einer „Notbremse“. Denn der Stufenplan könnte unter einer dritten Welle begraben werden.

Stuttgart - Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hält die stärkere Lockerung des Corona-Lockdowns für Kreise mit niedrigen Infektionszahlen von Montag an für vertretbar. Zugleich warnte der Grünen-Politiker am Freitag im Landtag vor „Einkaufstourismus“ zwischen den Kreisen. Man werde die „Notbremse“, ziehen, sollte die Inzidenz vor Ort über 100 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in 7 Tagen steigen. „Vor uns liegt eine mögliche dritte Welle“, warnte Kretschmann. Deswegen müsse man mit „Augenmaß“ vorgehen und das Testen schnell ausweiten. Während der Koalitionspartner CDU den „Systemwechsel“ begrüßte, bemängelte die Opposition den neuen Kurs als widersprüchlich und zu zaghaft.

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Kretschmann räumt ein „gewisses Risiko“ ein

„Uns ist bewusst: Wir gehen ein gewisses Risiko ein, wenn wir Inzidenzen in den Kreisen zum Maßstab nehmen und nicht die landesweite Inzidenz“, sagte Kretschmann bei der Sondersitzung des Landtags zu den Corona-Beschlüssen von Bund und Ländern vom Mittwoch. Man wolle aber eine gewisse Normalität ermöglichen. „Wir wollen auf die Vernunft der Menschen setzen.“ Es dürfe aber nicht passieren, dass die Menschen nun zuhauf in anderen Kreisen auf Shoppingtouren gingen. „In diesem Fall müssten wir sehr schnell die Notbremse ziehen“, sagte er. Die Kreise seien gebeten, sich mit ihren Nachbarn abzusprechen, um Aufläufe zu verhindern. Es sei eine „Probe“, ob das möglich ist, erklärte der Grüne.

Die Corona-Beschlüsse der Bund- und Länderkonferenz:

Die grün-schwarze Koalition hatte sich am Donnerstagabend darauf verständigt, dass in Kreisen, die stabil unter 50 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner in 7 Tagen liegen, unter anderem der Einzelhandel wieder öffnen darf. Man hatte auch darüber diskutiert, für Öffnungen die landesweite Inzidenz als Maßstab zu nehmen, um Einkaufstourismus zu vermeiden. Doch das hätte bedeutet, dass es auf Sicht kaum eine größere Lockerung gegeben hätte. Denn die landesweite Inzidenz steigt seit etwa 2 Wochen stetig und liegt mittlerweile bei 56,3.

Die Zahl der Kreise mit niedrigen Corona-Zahlen sinkt und sinkt

Von den 44 Stadt- und Landkreisen liegen 16 unter einer Inzidenz von 50. Aber auch hier lohnt ein Vergleich: Vor zwei Wochen lagen noch 35 von 44 Kreisen unter der Inzidenz von 50 und vor einer Woche immerhin noch 25. Als Grund für die Veränderung gilt die Ausbreitung der Virusvarianten, die ansteckender sind. Diese mutierten Viren sollen schon mehr als die Hälfte aller Neuinfektionen ausmachen.

Nur unter 50: Geschäfte, Museen und Zoos dürfen öffnen

Der Beschluss von Bund und Ländern, den Baden-Württemberg nun umsetzen will, sieht vor, dass vom kommenden Montag an bei einer 7-Tage-Inzidenz von unter 50 der Einzelhandel wieder öffnen kann - allerdings mit einer Begrenzung von einer Kundin oder einem Kunden pro 10 Quadratmeter beziehungsweise 20 Quadratmeter je nach gesamter Verkaufsfläche. Möglich sind dann auch die Öffnung von Museen, Galerien, Gedenkstätten, zoologischen und botanischen Gärten sowie auch kontaktfreier Sport in kleinen Gruppen mit bis zu maximal zehn Personen im Außenbereich, auch auf Außensportanlagen.

Nur „Click & Meet“ zum Beispiel in Stuttgart

Bei einer 7-Tage-Inzidenz von bis zu 100 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner gelten eingeschränkte Lockerungen für diese Bereiche. Shopping geht dann nur mit Termin („Click & Meet“) und auch in anderen Einrichtungen muss man einen Termin buchen. Auch kontaktfreier Sport mit maximal 5 Personen aus zwei Haushalten und im Freien für Gruppen mit bis zu 20 Kindern bis 14 Jahren sind möglich. Das gilt zum Beispiel auch für die Landeshauptstadt Stuttgart, wo die Inzidenz derzeit bei 61,5 liegt.

FDP dringt auf flächendeckende Öffnung des Handels

FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke hielt Kretschmann vor, er lockere nicht aus Überzeugung, sondern auf Druck der Bevölkerung. Es sei nicht vermittelbar, auf der einen Seite private Kontakte zu lockern, aber den Handel nur nach und nach zu öffnen, obwohl der kein Treiber der Pandemie sei. „Öffnen Sie den Handel bitte flächendeckend“, rief Rülke. So könne ein „Flickenteppich“ und „Einkaufstourismus“ verhindert werden. Die AfD kritisierte die „Verwirrung“, die durch den Stufenplan entstehe, und forderte erneut eine Aufhebung des wochenlangen Lockdowns.

CDU-Fraktionschef zitiert Fontane

Die CDU-Fraktion begrüßte, dass Kretschmann eine „Roadmap aus dem Lockdown“ vorgestellt habe. „Es ist gut, dass wir einen Systemwechsel eingeleitet haben“, sagte Fraktionschef Wolfgang Reinhart. Die Firmen im Land bräuchten eine Perspektive. „Unternehmer wollen Unternehmer sein und nicht Unterlasser.“ Trotz erster Frühlingsgefühle sei der „Corona-Winter“ nicht vorbei. Reinhart zitierte aus Theodor Fontanes Gedicht „Frühling“: „Wohl zögert auch das alte Herz und atmet noch nicht frei, es bangt und sorgt: Es ist erst März, und März ist noch nicht Mai.“

Auch CDU-Spitzenkandidatin Susanne Eisenmann unterstützt den Kurs: „Den Vorwurf, dass nun ein Flickenteppich entstehe, kann ich nachvollziehen“, sagte sie der dpa. „Aber das Land ist nun mal von regionalen Besonderheiten und Erwartungen geprägt und die regionalen Inzidenzen gehen sehr weit auseinander. In einem Flächenland wie Baden-Württemberg wäre es deshalb ungerecht, wenn ein Einzelhändler auf der Ostalb, in Böblingen oder in Freudenstadt bei sehr niedriger Inzidenz nicht öffnen darf, weil der Wert zum Beispiel im Landkreis Schwäbisch Hall momentan noch weit über 100 liegt.“

Kretschmann attackiert Spahn wegen Selbsttests

Der Ministerpräsident hielt dem Bund „ernste Versäumnisse“ wegen der späten Bestellung von Corona-Selbsttests vor. Er habe bei der Schalte mit Bund und Ländern erfahren, dass „überhaupt noch nichts passiert“ sei. „Keine Ausschreibung, keine Order, nichts.“ Erst seit kurzem gebe es eine gemeinsame Plattform von Bund und Ländern, um Schnelltests in großem Stil zu bestellen. „Wir verlieren da leider wieder wertvolle Zeit“, beklagte Kretschmann. Er gehe trotzdem davon aus, dass es möglich ist, von Montag an allen Bürgerinnen und Bürgern einen kostenlosen Schnelltest anzubieten.

Nächster Öffnungsschritt bei Schulen am 15. März

Zuvor hatten sich Kretschmann und Eisenmann schon darauf verständigt, bei den Schulen im Land einen nächsten Öffnungsschritt zu gehen und Fünft- und Sechstklässler nach dem wochenlangen Corona-Lockdown zurückkommen zu lassen. Zudem sollen die Grundschulen nach drei Wochen Wechselunterricht ebenfalls am 15. März wieder zum Regelbetrieb übergehen.