Was für ein Comeback: Als am 17. Juli im finnischen Kuopio die ersten Sieger der Skisprung-Saison gekürt werden, steht einer ganz oben, der eine lange Leidenszeit hinter sich hat: David Siegel.
Die bisherige Karriere des 25-Jährigen aus dem Sulzer Stadtteil Dürenmettstetten, der für den SV Baiersbronn an den Start geht, kann man trennscharf in zwei Teile teilen. Vor Zakopane und nach Zakopane. Denn an jenem schicksalhaften 19. Januar 2019 gelingt dem damals 22-Jährigen ein sagenhafter Sprung. Immer weiter und immer weiter hinab geht es für Siegel – am Ende zu weit. Der Junioren-Weltmeister von 2016 kann den Sprung nicht stehen, stürzt und, viel schlimmer, reißt sich das Kreuzband. Die bisher hervorragend laufende Saison ist für den Youngster zu Ende, der Höhenflug im Weltcup abrupt zu Ende.
"Wer bin ich?"
18 lange Monate dauert es, bis er im letzten Jahr auf die Schanze zurückkehren kann. "Es war sehr hart, in einer Phase, in der ich richtig gut drauf war, von einem Tag auf den anderen plötzlich raus zu sein", meint Siegel, aber die Zeit hat ihn geprägt. "Es gab in der Zeit viele Fragen zum Leben allgemein", erklärt ein sehr in sich ruhender David Siegel, "ich hab da ein gutes Fundament und einen guten Halt im christlichen Glauben gefunden. Das hat mich zur Ruhe gebracht und zur Sichtweise, dass Skispringen nicht alles ist, auch wenn mir das sehr viel Spaß macht." So hat er für sich beantwortet, "wie es nach dem Skispringen weitergehen könnte, was mich interessiert, wer ich bin".
Noch eine Rechnung offen
Mit einer derartigen mentalen Stärke ausgestattet, hat er auch die Corona-Saison, in der er eigentlich wieder durchstarten wollte, überstanden. "Das war schon unfassbar ärgerlich", erzählt Siegel, dass die Sommersaison im letzten Jahr komplett ins Wasser fiel und im Corona-Winter ein "Kaltstart" im wahrsten Sinne des Wortes folgte. "Mir hat einfach dieser muskuläre Tonus und das Schnellkräftige gefehlt, die Sprungkraft war nicht in dem Maß da, wie es sein muss", erklärt der 25-Jährige, der der Zeit vor Zakopane nicht hinterherweint. Passiert ist passiert – jetzt wird in die Zukunft geschaut. Und in der hat er nach den erfolgreichen Sommer-Wettbewerben noch eine Rechnung im Continental-Cup, der Zweiten Liga des Skispringens, offen. "Im letzten Winter haben wir als Deutsche, sag ich mal salopp, ziemlich auf die Fresse bekommen. Da haben uns die Österreicher in Grund und Boden gesprungen und uns total dominiert."
Motto: Gas geben!
Das soll anders werden. Zunächst war Siegel zwar überrascht, dass er gleich mit einem Sieg in den Sommer gestartet war, "nachdem ich im letzten Winter nur einmal in die Top 15 gekommen bin", doch nachdem die gesamte Mattensaison sehr gut lief, fühlt sich Siegel jetzt bereit für den Angriff auf höhere Ziele: "Jetzt wird es auf jeden Fall so sein, dass ich wieder Gas gebe und mich auch relativ schnell wieder in Richtung Weltcup-Team orientieren möchte."
Weltcup das Ziel
Dabei ist er natürlich auch von anderen abhängig: "Wie gut starten die im Winter? Was bringen sie für Ergebnisse?" Siegel setzt darauf, dass "ich den einen oder anderen Einsatz außerhalb der Vierschanzentournee bekomme", dann zeigen darf, was er kann und sich so wieder langsam ins Weltcupteam reinkämpfen kann und schon wieder zum festen Kern der Auswahl von Bundestrainer Stefan Horngacher wird. Wer weiß: Vielleicht startet er Anfang Dezember im norwegischen Vikersund auch im Winter mit einem Sieg – "dann führt letztendlich kein Weg dran vorbei, ins Weltcup-Team zu rutschen".
Kein Horror vor Zakopane
Wenn er wieder Teil des Weltcup-Teams wäre, käme es am 14. Januar 2022 zu einem Wiedersehen mit der Schanze in Zakopane. "Ganz ehrlich: Da ist nichts geblieben. Mit der Schanze verbinde ich wirklich nur Gutes! Der erste Gedanke ist: ›Da war mein erster Weltcupsieg‹, auch wenn‘s im Teamspringen war, da hab ich schon sehr gute Sprünge drauf gemacht, ich weiß, dass es auf der Schanze läuft und ich dort immer wieder für positive Überraschungen sorgen kann."
Déjà-vu in der Luft
Natürlich hat sich der 19. Januar 2019 aber doch ein wenig in David Siegels Kopf eingenistet. Ab und an verspürt er ein kleines Déjà-vu – aber nicht, was den Ort angeht: "Wenn ein Sprung wieder sehr, sehr weit geht, sich ein ähnliches Szenario abgespielt, da kann es schon mal sein, dass der Gedanke in der Luft aufkommt: Moment, das wird gefährlich, da unten ist die letzte Linie, der Sprung geht jetzt da drüber. Dann ist jedes Mal wieder die Frage: Schaff ich‘s, das durchzuziehen und zu sagen: Ja, mach ich, da will ich jetzt drüber, da hab ich jetzt richtig Lust drauf, oder kommt im Kopf dieser Schutzmechanismus: Moment, das ist schon mal schiefgegangen, lass mal!"
Im Sommer jedenfalls hat David Siegel die erste Option gezogen. Und er hat nicht vor, das im kommenden Winter zu ändern.