Cheri MacNeil kommt aus Südafrika und verpackt auf dem Album „Rivonia“ Vergangenheitsbewältigung in barocken Pop. Foto: promo

Lässt sich die Zeit der Apartheid mit den Mitteln Pop aufarbeiten? Ja, wenn man es so gut macht wie Cheri MacNeil. Am Montag stellt die Frau, die die Band Dear Reader ist, das Album dazu in Stuttgart im Schocken vor.

Stuttgart - Lässt sich die Zeit der Apartheid mit den Mitteln Pop aufarbeiten? Ja, wenn man es so gut macht wie Cheri MacNeil. Am Montag stellt die Frau, die die Band Dear Reader ist, das Album dazu in Stuttgart im Schocken vor.

Mrs. MacNeil, Sie kommen aus Johannesburg, leben aber seit drei Jahren in Berlin. Was vermissen Sie hier am meisten?
Meine Familie natürlich, reife Avocados und mitten in der Nacht von einem über mir tobenden Gewitter aufzuwachen.

Worauf freuen Sie sich immer am meisten, wenn Sie nach Hause fliegen?
Normalerweise verbringe ich die erste Nacht bei meinen Eltern und lass mich von Mama bekochen. Dann hole ich meinen Hund Staples bei meinem Freund und ehemaligen Dear-Reader-Partner Darryl ab, gehe mit ihm im Park spazieren und esse ein Curry in Fordsburg. Ach ja, das ist eine andere Sache, die ich vermisse – indisches Essen, das wirklich scharf ist.

Wie sieht es mit der Musikszene in Johannesburg aus?
Die spiegelt den Stand der Dinge in Südafrika wider – sie ist nämlich ziemlich zersplittert. Jeder Aspekt des täglichen Lebens in Südafrika zerfällt in getrennt voneinander existierenden Kulturen, Sprachen, Erfahrungen. Die englischsprachige Indiepop-Szene zum Beispiel ist klein. Die meisten Leute, die in dem Bereich unterwegs sind, kennen sich untereinander. Als Dear Reader vor ein paar Jahren für den Sama – den Grammy Südafrikas – nominiert waren, wurde mir bei der Feier erst klar, dass es in Südafrika auch einige richtig große Musikgenres gibt – mit Künstlern, die Hunderttausende Platten verkaufen in Genres wie Afrikaans Pop, Gospel oder Kwaito.

Und welche Band aus Johannesburg sollte ich mir unbedingt einmal anhören?
Carlo Mombelli & The Prisoners of Strange. Die kommen zwar vom Jazz, sind aber längst ganz woanders angekommen. Ich mag Jazz nicht wirklich. Doch das ist unglaublich kreative, inspirierende Musik.

Sind Spuren der Apartheid im heutigen Südafrika eigentlich noch erkennbar?
Selbstverständlich. Überall. Die Apartheid ist schließlich eine Hinterlassenschaft, die einige Jahrhunderte alt ist. Alles begann, als die ersten europäischen Siedler ankamen. Ich befürchte die Narben in der Gesellschaft werden noch eine lange Zeit, wenn nicht sogar für immer sichtbar bleiben.

Davon erzählen Sie ja auf „Rivonia“. Ist die Platte ein politisches Statement?
Definitiv nicht. Sie ist vor allem der Versuch, mir über meine eigenen Gefühle über meine Heimat klar zu werden. Es geht mir nicht darum zu behaupten: Hier sind ein paar Dinge, die ich weiß und die die Welt unbedingt erfahren muss. Ich hatte vielmehr einfach erkannt, wie wenig ich weiß und wie wenig ich verstehe – mein Ziel war es, daran etwas zu ändern.

Was verbirgt sich hinter dem Titel „Rivonia“?
Der erste Song, den ich für das Album geschrieben habe, war „Took Them Away“. Er verdankt viel Nelson Mandelas „Long Walk to Freedom“. Es geht darin um die Lilliesleaf Farm. Lilliesleaf war das geheime Hauptquartier des militärischen Arms des ANC, des afrikanischen Nationalkongresses. Hier trafen sie sich und planten ihre Guerrilla-Aktionen. Der Song handelt davon, wie bei einer Polizeirazzia auf der Farm die komplette Führung des ANC gefangengenommen wurde. Ich erzähle aus der Perspektive eines kleinen Jungen namens George Mellis, der auf der anderen Seite der Straße lebte und vielleicht etwas damit zu tun hatte, dass das Versteck aufflog. Als mir klar wurde, dass all das in Rivonia, einem Stadtteil von Johannesburg, passierte, hat mich das erschüttert.

Warum?
Ich bin in Rivonia aufgewachsen, aber ich habe den Stadtteil immer nur von meinem weißen Mittelklasse-Standpunkt aus als ruhigen Vorort wahrgenommen, in dem mein Vater arbeitete und in dem ich zur Schule ging. Auf einmal hatte der Ort eine völlig neue Identität – eine Seite, die ich nie zuvor gesehen hatte. Rivonia repräsentiert für mich die zersplitterte südafrikanische Seele.

„Rivonia“ ist auf der anderen Seite auch eine wunderbar melodramatische Popplatte. Sie selbst haben das Album als Pop-Musical bezeichnet und sich als Disney-Fan geoutet.
Ich weiß, dass viele Walt Disney gegenüber ihre Vorbehalte haben. Auch ich halte diese Art von Unterhaltung nicht für unproblematisch. Aber ich bin mit Disneyfilmen aufgewachsen. Es gibt so viele schöne Momente, Lieder und Geschichten in ihnen. In vielen Elementen erinnert „Rivonia“ an ein Disney-Musical, das melodramatisch die Gefühle überhöht. Durch die Musik tönt eine gewisse Leichtigkeit, Verspieltheit und Naivität . . .

. . . die aber im Kontrast zu den ernsten Themen auf „Rivonia“ stehen. Wenn man nicht auf den Text achtet, könnte man „Took Them Away“ für eine fröhliche Nummer halten.
Das scheint mir immer wieder zu passieren, wenn ich Lieder schreibe. Es ist so, als ob die Songs selbst die beiden Seiten meines Charakters einfangen wollen. Auf der einen Seite bin i ch jemand, der wie ein fröhliches Kind wirkt. Auf der anderen Seite kann ich auch ziemlich schwermütig und ernsthaft werden. Beim Liederschrieben scheint meine melancholische Seite in die Texte zu drängen, während meine fröhliche Seite sich auf die Musik stürzt.

Das wichtigste Instrument in den Songs auf „Rivonia“ ist die menschliche Stimme.
Absolut. Ich wollte, dass die Stimme der Star der Show ist. Ich wollte auf der Platte viel mehr Luft zum Atmen lassen als zuvor auf „Idealistic Animals“ – mich auf die Stimme, das Klavier und die Percussion konzentrieren – und so viel Chorgesang wie möglich unterbringen. Die Arrangements entstanden beim Singen. Ich habe meine Stimme wieder und wieder aufgenommen, lauter Gesangsspuren übereinander gelegt. Ich wusste zwar, das der eine Teil später eine Trompete, der andere eine Violine werden sollte, aber entstanden sind die Arrangements eher durchs Singen als durchs Denken. Manchmal bin ich sogar mitten in der Nacht mit einer Idee im Kopf aufgewacht und habe sie dann flüsternd in mein Telefon gesungen, damit ich sie nicht wieder vergesse.

Dear Reader tritt am 13. Mai um 21 Uhr in Stuttgart im Schocken (Hirschstr. 36) auf; Tickets an der Abendkasse