Thorsten Lukaschewski kann es verstehen, wenn die Menschen keine Lust mehr auf Pandemie haben. Dennoch warnt er vor dem noch vorhandenen Gefahrenpotenzial des Virus.
Rottweil - Die Corona-Infektionszahlen schießen wieder in die Höhe. Auch wenn es nach zwei Jahren vielen schwer fällt - Thorsten Lukaschewski, Chefarzt an der Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin der Helios Klinik Rottweil, bittet dennoch darum, das Virus weiterhin ernst zu nehmen.
Herr Lukaschewski, salopp gesagt: Die Durchseuchung läuft. Was sagen Sie zur Corona-Lage?
Wir haben weiterhin höchste Raten an täglichen Neuinfektionen in Deutschland und ganz besonders hier in Rottweil. Das war einerseits nach Fastnacht zu erwarten und ist andererseits Folge der Ankündigung von weitgehenden Lockerungen. Es hat sich immer gezeigt, dass die Effekte schon vor dem Termin neuerer Maßnahmen erkennbar sind, weil sich die Bevölkerung schon entsprechend der Ankündigungen vorsichtiger oder weniger vorsichtig verhält.
Die höchsten Infektionszahlen liegen bei den 15- bis 59-Jährigen, einer Altersgruppe, in der wir eher leichtere Verläufe sehen, sodass wir aktuell im Zusammenhang mit der weniger krankmachenden Omikronvariante nur wenige Krankenhausaufnahmen und sehr wenige Intensivstationsbehandlungen haben. Das liegt nicht zuletzt an unserer gestiegenen Impfquote.
Aus medizinischer Sicht befürworten Sie vermutlich einen Weg der Vorsicht, verstehen Sie als Privatperson, dass die Maßnahmen in der Gesellschaft keine beziehungsweise kaum Akzeptanz mehr haben? Es ist ja jetzt "nur eine stärkere Erkältung"...
Natürlich verstehe ich, dass wir nach zwei Jahren Pandemie alle eine erhebliche "Corona-Müdigkeit" haben. Das geht mir nicht anders. Diese zwei Jahre waren die schwersten in meinen 33 Jahren ärztlicher Tätigkeit. Aber die Aussage "SarsCov2 ist jetzt nur noch eine stärkere Erkältung" ist weiterhin nicht richtig. Es stimmt, dass Omikron eine wesentlich weniger krankmachende Potenz hat, dafür aber eine extrem hohe Ansteckungsfähigkeit. Die extrem hohen Fallzahlen führen dann doch zu einigen schweren Erkrankungen. Und was wir nicht vergessen dürfen, sind die täglich rund 250 Toten und die Long-Covid- und Post-Covid-Syndrome. Diese beeinträchtigen die Patienten erheblich über Monate oder Jahre und haben spürbare Auswirkungen auf unser Gesundheitswesen.
Inwiefern bringt die Impfung jetzt eigentlich noch was?
Weil das Coronavirus nicht weg ist, weil die gesetzlichen Maßnahmen auslaufen. Die dreifache Impfung schützt weiterhin in relevantem Ausmaß vor symptomatischem Verlauf (70 Prozent) und ganz besonders vor schweren Verläufen (90). Auch die Long-Covid-Erkrankungen werden deutlich vermindert.
Wieso sollten Eltern jetzt noch ihre Kinder impfen lassen?
Weil auch Kinder an Long-Covid oder einer speziellen Autoimmunerkrankung der Kinder (PIMS) erkranken können und die Langzeitwirkungen dieser Erkrankungen für Kinder bis heute unbekannt sind. Die Impfung ist dagegen sehr sicher und verhindert beides weitestgehend.
Wie könnte ein Szenario im Herbst aussehen?
Zum jetzigen Zeitpunkt ist das schwer abzuschätzen. Wir wissen, dass die neue BA. 2-Variante des Omikronvirus noch ansteckender ist als BA.1 und wohl auch Menschen infizieren kann, die kurz vorher von BA.1 genesen sind. Völlig unklar ist, welche neuen Mutationen bis zum Herbst auftreten werden. Sicher erscheint, dass wir auch im nächsten Herbst eine Covid-19-Welle haben werden.
Was bleibt von der Pandemie – außer den Masken?
Die Erkenntnis, dass es Pandemien gibt. Und die unter Ärzten schon immer bekannte Tatsache, dass es nicht die Frage ist, ob eine neue Pandemie auftritt, sondern nur, wann diese auftritt. Das gilt auch für die Zukunft. Und bei jedem neuen Erreger werden wir am Anfang keine Impfstoffe haben und keine Medikamente zur Therapie, sodass nur Kontaktbeschränkungen die Ausbreitung begrenzen können. Und für die Masken konnten wir beweisen, dass sie ein höchst effizientes Mittel sind, um Infektionsübertragungen zu vermeiden. Die Menschen in Asien haben also zurecht in den winterlichen Infektionszeiten freiwillig Masken getragen.
Wieso sollten sich Erwachsene jetzt noch Boostern lassen?
Weil die Impfung nur nach drei Impfdosen vollständig ist. Nach der zweiten Impfdosis nimmt die Immunität innerhalb weniger Monate wieder stark ab. Erst die dritte Impfdosis verhindert die schweren Verläufe und Long-Covid länger anhaltend. Allerdings wissen wir naturgemäß bis heute nicht, wie lange die Immunität anhält. Es können auch in Zukunft weitere Auffrischungsimpfungen notwendig werden. Das ist allerdings bei vielen Impfungen so. Das klassische Beispiel ist die Tetanus-Impfung. Zur Grundimmunisierung sind drei Impfdosen notwendig und nach jeweils fünf bis zehn Jahren erfolgt eine Auffrischungsimpfung. Das machen wir seit Jahrzehnten ganz selbstverständlich mit.
Inwiefern konnten sich die Intensivstationen in den vergangenen Wochen etwas erholen?
Auf der Intensivstation befinden sich seit zwei Wochen keine Covid-19-Patienten mehr. Die letzten waren geimpft und corona-positiv, aber nicht an Covid-19 erkrankt, sondern wegen anderer schwerer Erkrankungen intensivpflichtig.
Wie stark sind die "normalen" Abteilungen betroffen?
Wir hatten zuletzt zwischen fünf und zehn covid-positive Patienten auf der Normalstation. Aktuell sehen wir jedoch vermehrt corona-bedingte Ausfälle bei unseren Mitarbeitern.
Gibt es neue Erkenntnisse zu den Impfnebenwirkungen, die es ja millionenfach geben soll, sich aber kein Betroffener traut, darüber zu sprechen?
In Deutschland haben wir knapp 150 Millionen Impfdosen gespritzt und weltweit ist die Milliardengrenze bereits überschritten. Da der Impfstoff so neu ist, wird er nicht nur in Deutschland, sondern weltweit sehr gut überwacht. In Deutschland ist das Paul-Ehrlich-Institut für die Sammlung und Auswertung dieser Daten zuständig. Hier wird auch statistisch berechnet, ob die gemeldeten Ereignisse häufiger nach einer Impfung auftreten als ohne Impfung. Insgesamt lässt sich sagen, dass schwerwiegende Ereignisse extrem selten sind trotz der hohen Fallzahlen. Diese treten entweder sofort (Allergien) oder innerhalb der ersten Woche nach der Impfung (Herzmuskelentzündungen, Nervenentzündungen) auf und sind nicht häufiger als bei anderen Impfungen. Da es sich überwiegend um milde Verläufe dieser Nebenwirkungen handelt, darf man zu Recht von sehr sicheren Corona-Impfstoffen sprechen. Ereignisse, die erst nach drei Wochen oder später auftreten, stehen eher nicht in einem Zusammenhang mit der Impfung.
Wann ist eine komplett neue Corona-Variante zu erwarten?
Das wissen wir aktuell nicht. Sicher ist nur, dass eine hohe Zahl an infizierten Menschen ein hohes Potenzial für Mutationen birgt. Bei jeder Vervielfältigung des Virus in den menschlichen Zellen besteht die Chance auf eine Mutation. Die allermeisten Mutationen sind nicht lebensfähig, aber je höher die Fallzahl ist, umso höher ist die Chance, einen neuen, noch ansteckungsfähigeren Virus zu kreieren.
Bringt regelmäßiges Testen noch etwas? Immer mehr testen sich nur noch, wenn sie Symptome haben...
Nur durch Testen und Absonderung im positiven Fall können wir die Infektionsketten unterbrechen. Wenn wir dieses Vorgehen aufgeben, werden wir weiter steigende Infektionszahlen erleben. In den Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen haben wir eine besondere Verantwortung für die uns anvertrauten Menschen. Daher testen wir uns konsequent weiter und isolieren uns bei positiven Tests.