Radikale Tochter aus dem Kessel: Cesy Leonard spricht über ihre „Wir sind die Töchter“-Petition, politisches Handeln im Kleinen und darüber, warum Stuttgart mutiger werden muss.
Cesy Leonard ist Künstlerin, Filmemacherin und politische Aktivistin aus Stuttgart. Hier begann ihr kreativer Weg in der Hip-Hop- und Graffiti-Szene, bevor sie mit 19 nach Berlin ging und über Theater und Film zur politischen Aktionskunst kam. Bekannt wurde sie als Teil des Zentrums für Politische Schönheit. 2017 gründete die dreifache Mutter mit Kolleginnen die Initiative Radikale Töchter, die junge Menschen ermutigt, politisch aktiv zu werden. Mitte Oktober erschien ihr Buch „Machen macht Mut – Gegen die Gleichgültigkeit“, in dem sie dazu aufruft, Wut in Verantwortung zu verwandeln. Zuletzt sorgte sie mit der Petition „Wir sind die Töchter“ gegen Friedrich Merz bundesweit für Aufsehen.
Frau Leonard, Sie haben mit der Petition „Wir sind die Töchter“ gegen die Äußerungen von Friedrich Merz zum „Stadtbild“ rund 250.000 Unterschriften gesammelt. Wie interpretieren Sie die Mobilisierung, und was sagt es über die Stimmung im Land aus?
Als der CDU-Vorsitzende diese Aussage gemacht hat, war das für mich ein Wendepunkt. Wenn ein Bundeskanzler so spricht, dann ist das kein Versprecher, sondern Alltagsrassismus, der in die Mitte der Gesellschaft rückt. Ich fand es wichtig, öffentlich ein Zeichen zu setzen: Das ist keine Sprache, die wir akzeptieren dürfen. Die Resonanz war überwältigend. Dass so viele Menschen in kürzester Zeit unterschrieben haben, zeigt, dass viele ähnlich empfinden – und nicht länger still bleiben wollen.
Trotzdem besteht ja die Gefahr, dass so eine Petition symbolisch bleibt. Wie kann daraus echter Wandel entstehen?
Genau da setzen die Radikalen Töchter an. Wir fragen: Wie lässt sich Haltung in Handeln übersetzen? Natürlich kann ich Merz nicht ändern, aber ich kann in meinem Umfeld aktiv werden – am Familientisch, in der Schule, am Arbeitsplatz. Wenn da jemand einen Spruch fallen lässt, kann ich widersprechen. Das ist politisches Handeln im Kleinen. Und es ist wichtig, im Gespräch zu bleiben, auch mit Menschen, die anderer Meinung sind. Wir müssen uns wieder zutrauen, zu streiten – respektvoll, aber klar.
Manche kritisieren, bei der Petition seien vor allem weiße Frauen laut geworden – und das eigentliche Thema, der Rassismus, sei in den Hintergrund gerückt. Wie sehen Sie das?
Ich finde die Kritik richtig, aber sie heißt nicht, dass weiße Frauen nicht auf die Straße gehen sollten. Es ist entscheidend, dass wir uns fragen, wer eigentlich sichtbar ist, wer spricht – und wer nicht. Genau deshalb machen wir politische Bildungsarbeit: Wir wollen, dass Menschen aus ganz unterschiedlichen Hintergründen politisch aktiv werden, nicht nur die üblichen Verdächtigen. Es braucht Räume, in denen alle lernen können, ihre Stimme zu erheben.
In Ihrem Buch „Machen macht Mut“ schreiben Sie, dass jede und jeder politisch wirksam sein kann. Wie erreicht man Menschen, die sagen: „Politik hat mit mir nichts zu tun“?
Wir gehen an Schulen, vor allem an Berufsschulen, weil dort politische Bildung oft endet. Viele Auszubildende fühlen sich ohnmächtig, sie erleben, dass ihre Stimme nichts zählt. Wir zeigen: Doch, du kannst etwas bewegen – auch wenn es klein wirkt. Wenn Schüler anfangen, sich über das kaputte Klo oder schlechtes Essen in der Kantine zu beschweren, ist das ein Anfang. Es geht um Selbstwirksamkeit. Wenn man einmal merkt, dass man etwas verändern kann, will man mehr davon.
Sie sprechen in Ihren Workshops vom „Mutmuskel“. Wie trainiert man den?
Mut fühlt sich fast nie mutig an – meistens hat man Angst, bevor man etwas sagt oder tut. Aber genau da fängt Mut an. Es hilft, sich bewusst zu machen: Wofür stehe ich? Was ist mir wichtig? Dann kann ich üben, kleine Schritte zu gehen – im Gespräch, in einer Aktion, auf Social Media. Nicht jeder muss auf die große Demo. Es reicht, den eigenen Wirkungsraum zu nutzen, den Nachbarn anzusprechen, einen Kommentar zu schreiben oder eine kleine Aktion im Viertel zu starten.
Was bedeutet für Sie eigentlich „radikal“?
Für mich heißt das: zur Wurzel gehen. Als wir 2017 die Radikalen Töchter gegründet haben, ging es uns darum, dem Hass etwas entgegenzusetzen, der damals mit dem Einzug der AfD in den Bundestag spürbar wurde. Wir wollten Menschen befähigen, selbst laut zu werden – mit Kunst, Kreativität und Humor. „Radikal“ bedeutet für uns, Demokratie ernst zu nehmen, also streitbar, lebendig und plural. Unser Grundgesetz ist in diesem Sinne zutiefst radikal: Die Würde des Menschen ist unantastbar – das ist ein revolutionärer Satz.
Sie sind in Stuttgart aufgewachsen. Wie hat Sie das geprägt?
Ich bin in Stuttgart-Vaihingen aufgewachsen, in einer sehr vernünftigen, sehr geordneten Welt: Abitur, sicherer Job, Häusle bauen – das war der Lebensentwurf. Aber ich habe mich darin nie wiedergefunden. Erst durch die Hip-Hop-Szene, durch Orte wie die „Gaskammer“ oder das Jugendhaus Mitte habe ich gemerkt: Es gibt andere Wege, andere Lebensentwürfe. Dort durfte ich wütend sein, laut sein, kreativ sein. Das hat mich enorm geprägt und letztlich zu meiner heutigen Arbeit geführt.
Wie blicken Sie heute auf Stuttgart?
Ich habe große Liebe für die Subkultur dort. Aber ich sehe auch den Druck: finanziell, gesellschaftlich, konform zu sein. In Berlin, wo ich lebe, ist das anders – hier ist es normal, kein Eigentum zu besitzen, kreativ zu arbeiten, politisch aktiv zu sein. In Stuttgart fehlt dafür oft der Raum – im wörtlichen Sinn. Wenn alles so teuer ist, wenn Orte für Jugendliche und Kunst verschwinden, dann wird eine Stadt starr. Mut braucht Freiraum, sonst wird er erstickt.
Was müsste passieren, damit Stuttgart mutiger wird?
Mehr Räume, weniger Kontrolle. Orte, wo Jugendliche einfach sein dürfen, wo Kunst passieren darf, wo Fehler erlaubt sind. Wenn Jugend, Kunst und Subkultur keinen Platz mehr haben, verliert eine Stadt ihre Lebendigkeit. Das gilt übrigens überall – auch in Berlin. Aber Stuttgart hat das Potenzial, wieder laut und unbequem zu werden. Dafür braucht es politische Entscheidungen: bezahlbare Räume, gute Bildung, echte Förderung für Menschen, die was verändern wollen.
Sie klingen dabei nie resigniert. Woher nehmen Sie Ihren Optimismus?
Vielleicht aus der Wut. (lacht) Wut ist ein guter Motor, wenn man sie in Energie verwandelt. Mut beginnt da, wo man zittert – und da fängt auch Veränderung an.
Cesy Leonard: Machen macht Mut – Gegen die Gleichgültigkeit. Aufbau-Verlag. 190 Seiten. 20 Euro.