Wird es einen nationalen Konsens zwischen Ampel und Union in der Asylpolitik geben? CDU-Chef Friedrich Merz fordert, der Kanzler müsse jetzt auf die Union zugehen. Und er stellt Bedingungen für einen Kompromiss.
CDU-Chef Friedrich Merz wirkt aufgeräumt beim Interview im Konrad-Andenauer-Haus in Berlin. Seine klare Botschaft: Die Zahl der Asylbewerber in Deutschland müsse runter. Um das zu erreichen, will Merz auch die Höhe der Sozialleistungen für abgelehnte Asylbewerber überprüfen. Weniger irreguläre Migration: Das sei auch notwendig, um die Situation in den Schulen zu verbessern.
Herr Merz, was ist wichtiger: das Land oder die Partei?
Das Land. Was sonst?
Kanzler Olaf Scholz strebt einen nationalen Konsens bei der Migration ein. Sind Sie bereit, Kompromisse einzugehen – oder sagen Sie hinterher auf jeden Fall „Es hätte mehr sein müssen“?
Niemand kann wissen, ob es gelingt, einen nationalen Konsens in der Asyl-Krise zu erzielen. Wir haben positiv auf das Angebot des Kanzlers reagiert, möglichst zu einem gemeinsamen Weg zu kommen. Es ist und bleibt richtig, das zu versuchen. Wir haben bereits im März unsere Vorschläge auf den Tisch gelegt. Bei unserem Gespräch im Bundeskanzleramt am 13. Oktober habe ich ihm ein Papier mit 26 nationalen und europäischen Maßnahmen übergeben, mit denen wir eine echte Wende bei der Begrenzung der irregulären Migration erreichen würden.
Können Sie auf die Ampel zugehen?
Der Kanzler muss auf die Union zugehen. Vor mehr als 50 Tagen hat er erstmals vom Deutschlandpakt gesprochen. Bis heute gibt es keine Arbeitsgruppen, in denen wir gemeinsam Lösungen erarbeiten könnten. Wir sind jederzeit zu Gesprächen bereit.
Was passiert, wenn die Menschen am Ende merken, dass sich – womöglich trotz gemeinsamer Beschlüsse von Ampel und Union – nicht so viel ändert? Die Asylbewerberzahlen lassen sich nicht von heute auf morgen verringern.
Das stimmt. Es gibt nicht den einen Knopf, den man drücken könnte, um über Nacht das Problem in den Griff zu bekommen. Klar ist: Wir können uns mit der Ampel nur dann einigen, wenn eine Vielzahl von Maßnahmen eine gewisse Sicherheit bietet, dass die Asylbewerberzahlen im kommenden Jahr runtergehen.
Sie fordern eine Asylzuwanderung von maximal 200 000 Menschen im Jahr. Könnte eine Unions-geführte Regierung eine solche Obergrenze garantieren?
Keiner kann eine bestimmte Zahl garantieren. Uns geht es darum, zu definieren, was maximal verkraftbar wäre: 200 000 Menschen im Jahr sind eine sehr hohe Zahl. Wenn wir jedes Jahr 200 000 Asylbewerber hätten, die in Deutschland bleiben, dann ist das in fünf Jahren so viel wie die Stadt Köln Einwohner hat. Das zeigt: Die Zahlen müssen runter.
Was ist für Sie das Minimum, das für einen Kompromiss mit der Ampel notwendig ist? Was ist der wichtigste Kern der Unionsvorschläge?
Die Maßnahmen müssen geeignet sein, um tatsächlich eine deutliche Reduzierung der irregulären Migration zu erreichen. Die Ampel muss zustimmen, dass im Aufenthaltsgesetz wieder verankert ist, dass es um die Begrenzung des Zuzugs geht. Die Bundesregierung muss hier einen Kurswechsel um 180 Grad hinlegen. Und: Die Sozialleistungen gerade für abgelehnte Asylbewerber müssen überprüft werden. Ich bin für mein Beispiel mit den Zahnärzten viel gescholten wurden, bleibe aber dabei: Es setzt die völlig falschen Anreize, wenn Asylbewerber nach einem ablehnenden Bescheid in der medizinischen Versorgung bessergestellt sind als zuvor.
Sie haben gesagt: „Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger bekommen keine Termine.“ Sind Zahnärzte nicht gerade die Fachärzte, bei denen man gut Termine bekommt?
Ich hätte auch Kinderärzte oder Allgemeinärzte nennen können. Mir war wichtig, ein Problembewusstsein für Fehlanreize in der Migrationspolitik durch zu hohe Leistungen zu schaffen.
Bund und Länder ringen hart über die Verteilung der Kosten bei den Geflüchteten. Muss der Bund bei der Ministerpräsidentenkonferenz Anfang November substanziell mehr Geld anbieten?
Der Bund muss umso mehr Geld geben, je größer die Zahl der Flüchtlinge ist. Bringt die Bundesregierung die Zahlen runter, geht es um weniger Geld.
Ein Problem, dass sich auch mit Geld nicht lösen lassen wird, ist der Lehrermangel. Sind die Schulen mit den Herausforderungen, vor die sie die Integration stellt, dauerhaft überfordert?
Vorweg gesagt: Für das, was Lehrerinnen und Lehrer in unseren Schulen leisten, habe ich größten Respekt. Da wird großartige Arbeit gemacht unter erschwerten Bedingungen. Denn: Zu viele Schulen haben viel zu viele Kinder, die die deutsche Sprache nicht richtig beherrschen. Das überfordert aktuell unser Bildungssystem. Übervolle Klassen gehen dann zulasten aller Kinder in diesen Schulen, sie starten mit unzureichender Bildung ins Leben. Dieses Defizit lässt sich im Erwachsenenalter oft nicht mehr ausgleichen. Auch deshalb müssen wir die irreguläre Zuwanderung in den Griff bekommen. Die Asylkrise ist auch eine Frage der Bildungspolitik.
An einem Teil der Schulen gibt es – wie sich nach den Terrorangriffen der Hamas auf Israel gezeigt hat – offensichtlich ein Antisemitismus-Problem. Was muss jetzt geschehen?
Ich war vergangene Woche in einer jüdischen Schule in Berlin. Da haben mir Schülerinnen und Schüler von den Drohungen und Anfeindungen berichtet, denen sie täglich ausgesetzt sind. Das können wir nicht hinnehmen. Wir haben ein Problem mit eingewandertem Antisemitismus. Wir müssen uns in Deutschland über die Hausordnung unterhalten. Wer hier leben will, muss akzeptieren, dass das Existenzrecht Israels zur Staatsräson gehört. In den Schulen gehört der Nahe Osten jetzt fest auf den Stundenplan. Die Schüler sollten aufgeklärt werden über das, was da stattfindet. Der Überfall der islamistischen Hamas auf Israel war die sadistischste Barbarei gegen jüdisches Leben, die wir seit Jahrzehnten gesehen haben. Wir sollten nicht vergessen, dass viele Familien in Israel über den Tod der eigenen Kinder oder Großeltern trauern. Das wird noch lange das Leben der Menschen dort bestimmen.
Die Lage der Zivilbevölkerung in Gaza ist prekär. Können Sie sich vorstellen, dass Deutschland ein humanitäres Kontingent aufnimmt?
Nein. Deutschland sollte keine Flüchtlinge aus Gaza aufnehmen. Wenn es dort zu Fluchtbewegungen kommt, ist das zunächst eine Aufgabe für die umliegenden Staaten. Wir haben in Deutschland bereits im europäischen Vergleich sehr viele Asylbewerber aufgenommen. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung im Gaza-Streifen unterstützt leider immer noch die Hamas. Das Problem mit Antisemitismus in Deutschland würde sich noch verschärfen.
Das Land ist wirtschaftlich in der Krise. Gibt es einen zentralen Hebel, um da rauszukommen? Was ist der wichtigste Punkt, den Sie anders machen würden als die Ampel?
Wir würden die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft stärken. Wenn Deutschland die höchsten Arbeits-, Bürokratie- und Energiekosten hat, und dazu noch die höchsten Steuern, dürfen wir uns nicht wundern, dass wir Industrie verlieren. Zuallererst müssen die irrsinnigen Bürokratiekosten runter.
Wirtschaftsminister Habeck hat gerade eine Industriestrategie vorgelegt, die einen „Brückenstrompreis“ für die energieintensive Industrie vorschlägt. Was halten Sie davon?
Nach diesem Mechanismus arbeitet die Bundesregierung: Erst verknappt sie das Angebot, indem sie Kernkraftwerke schließt. Wenn dann die Industrie ächzt und leidet, denkt sie über Subventionen nach. Wir würden stattdessen die Stromsteuer auf das europäische Minimum senken und die Netzentgelte absenken.
Werden die Wahlergebnisse der AfD wieder sinken, wenn die Ampel wieder Tritt fasst?
Da gebe ich dem SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil völlig recht: Wenn es der SPD besser geht, geht es der AfD schlechter.
Gilt das auch für die Union?
Wir liegen in den Umfragen jetzt stabil über 30 Prozent. Aber wir können die AfD nicht halbieren, wenn die Regierung die AfD mit ihrer Politik verdoppelt.
Vielleicht schafft das ja Sahra Wagenknecht…
Womöglich gelingt es Sahra Wagenknecht, der rechtsextremen AfD einiges an Stimmen wegzunehmen. Diese Möglichkeit darf aber über eines nicht hinwegtäuschen: Ich finde die Tatsache sehr beunruhigend, dass wir demnächst zwei populistische Parteien haben werden – eine von rechts und eine von links. Das ist höchst unerfreulich.
Wagenknecht hat bei der Präsentation Ihrer neuen Formation gesagt, sie wolle den Meinungskorridor des Sagbaren ausweiten. Stimmen Sie ihr in der Notwendigkeit dies zu tun zu?
Das ist etwas dran. Allerdings vermute ich, dass Frau Wagenknecht und ich das in sehr unterschiedliche Richtungen interpretieren. Wir beobachten, was sie tut. Ihr Auftritt darf nicht überdecken, dass hier jemand die politische und wirtschaftliche Ordnung unseres Landes vollständig verändern will.
Muss die Union angesichts der 2024 anstehenden drei Landtagswahlen im Osten nicht ihr Verhältnis zur Linkspartei überdenken?
Das werden wir nicht tun. Im Augenblick zerstört ja Frau Wagenknecht die Linkspartei.
Umfragen zeigen, dass Wagenknechts Bündnis eher der AfD Stimmen kosten wird. Insofern bleibt die Frage nach Ihrem Verhältnis zur Linken. Herr Ramelow in Thüringen ist ja nun wirklich kein kommunistisches Schreckgespenst.
Aber er ist ein Vertreter der Linkspartei. Deshalb gilt unsere Beschlusslage. Keine Zusammenarbeit mit der Linken.
Frage an den CDU-Vorsitzenden: In vielen Ländern haben sich traditionsreiche christdemokratische Parteien pulverisiert. Die Milieus in der CDU entwickeln sich auch immer weiter auseinander. Ist eine Spaltung der Partei eine Gefahr?
Sie erleben es bei Twitter oder in den Talkshows, wir haben eine Zersplitterung der politischen Meinungen. Manchmal werde ich dafür kritisiert, dass ich als Vorsitzender nicht konservativ genug auftrete. Anderen wiederum bin ich zu konservativ. Ich sage dazu: Die wichtigste Aufgabe eines Parteivorsitzenden ist es, die Partei zusammenzuhalten und die gesamte Spannbreite der Partei zu bewahren. Deswegen versuche ich, allen drei Wurzeln – liberal, sozial und konservativ – in der CDU Raum zu geben. Gerade weil die Union vom Arbeitnehmerflügel bis zu den Wirtschaftsliberalen und den Konservativen ein solches Spektrum abdeckt, leisten wir der Demokratie einen Dienst. Wir sind die letzte verbliebene Volkspartei in Deutschland, das möchten wir gemeinsam bewahren.
Das Gespräch führten Tobias Peter und Norbert Wallet.