Klettern mal anders: Lukas Bühler auf dem Weg zum Gipfel des Cannstatter Pfeilers Foto: Max Kovalenko

Kletterer wagen sich an echte Felsen in der Natur oder an künstliche Griffe in Hallen und Anlagen – so etwas wie diesen früheren Träger einer Eisenbahnbrücke finden sie dagegen selten im Angebot.

Stuttgart - Allein ein Blick genügt, um mitzuleiden. Denn irgendwie will die Länge von Lukas Bühlers Füßen nicht so recht zur Größe seiner Schuhe passen. „Die sind 37,5“, sagt der 19-Jährige schmunzelnd, „eigentlich habe ich Größe 41.“ Sportkletterer mögen es ein paar Nummern kleiner, damit das Gefühl voll da ist. Besonders, wenn man es mit einem Kaliber wie dem Cannstatter Pfeiler aufnehmen will.

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Türme in Stuttgart

„Kantig, kultig, kräftezehrend“ vermerkt die Sektion Stuttgart des Deutschen Alpenvereins auf ihren Internetseiten zu dem 18 Meter hohen Sandsteinpfeiler. Außergewöhnlich ist er auf jeden Fall. Kletterer wagen sich an echte Felsen in der Natur oder an künstliche Griffe in Hallen und Anlagen – so etwas wie diesen früheren Träger einer Eisenbahnbrücke finden sie dagegen selten im Angebot. Wie ein ausgestreckter Finger reckt er sich in Bad Cannstatt, gegenüber dem Kraftwerk Münster, in die Höhe. Er ist ein Überbleibsel des alten König-Wilhelm-Viadukts über den Neckar, das in den 80er Jahren durch einen modernen Neubau ersetzt worden ist.

Es ist ein Terrain für Geübte. Denn die Sandsteinquader sind etwas ganz anderes als das, was die meisten Kletterer sonst kennen. „Wir haben hier eine ganz flache Wand. Man muss den Körperschwerpunkt gut verschieben, die Reibung des Gesteins nutzen und statt aus den Armen heraus mit viel Fingerkraft arbeiten. Das ist urbanes Klettern“, sagt Lukas, als er sich den Sicherungsgurt anlegt. Er absolviert derzeit ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) beim Alpenverein und kommt gerade von einer Kletterfreizeit zurück, bei der er Kinder und Jugendliche betreut hat.

Die Routen bewegen sich im sechsten und siebten Schwierigkeitsgrad

In Cannstatt dagegen wäre es nicht möglich, Anfänger zu unterrichten: „Das hier ist nicht zum Üben geeignet“, sagt Lukas. Die Routen bewegen sich im sechsten und siebten Schwierigkeitsgrad. Das ist auch für einen Wettkampfkletterer mit Trainerschein keine Kleinigkeit. Der 19-Jährige spannt die Muskeln an und tastet sich die ersten Meter nach oben, während ihn Kletterpartnerin Lynn Dinges von unten sichert. „Das ist ein Teamsport, das ist das Schöne daran“, sagt Lukas und greift tief in das Magnesiasäckchen, das an seiner Hose baumelt.

Die Sonne brennt, der Schweiß rinnt. Elegant steigt Lukas höher. Die enorme Kraftanstrengung ist kaum zu sehen, fast schwerelos wirken die Bewegungen. Konstanz ist hier gefragt, minutenlanges Durchhalten in der Wand. Über das neue Viadukt, das direkt über dem Pfeiler steht, brettert ein Zug.

Von oben genießen die Kletterer eine ansprechende Sicht. Ein grüner Park erstreckt sich in der Umgebung entlang der Hofener Straße. Nebenan fließt der Neckar, daneben lädt eine Anlage zum Boule-Spiel. Das ist nicht immer so gewesen. Als einige Sportler vor gut 20 Jahren den Abriss des Pfeilers verhinderten, stand er noch in einem tristen Industriegebiet. Das hat sich gehörig geändert. Allerdings war der Pfeiler später im Zuge des Parkbaus 18 Monate lang nicht nutzbar, weil Wasserleitungen verlegt wurden.

Der Ort war bereits Schauplatz eines heimtückischen Mordes

Auch das Relikt selbst musste nach Wasserschäden saniert werden. Eine kleine Gruppe kümmert sich liebevoll um den Pfeiler. Deshalb steht er auch externen Sportlern nicht zur Verfügung. „Dort dürfen nur Mitglieder unserer Sektion klettern“, sagt Christian Alex vom Alpenverein. Schließlich hätten „einige eifrige Kletterer den Pfeiler beim Bau der neuen Brücke vor dem Abrissbagger gerettet“. Seither pflege ihn die Sektion und halte ihn instand. Schon der Blick von unten reicht, um eine Gänsehaut heraufzubeschwören.

Erst recht, wenn man weiß, welch schauerliche Szenen sich am Cannstatter Pfeiler einst abgespielt haben. Denn der Ort war bereits Schauplatz eines heimtückischen Mordes. Glücklicherweise nur fürs Fernsehen. Bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt ist dort im Januar vergangenen Jahres die Tatort-Folge „Tote Erde“ gedreht worden. Darin wird ein Umweltaktivist, der am Pfeiler ein Transparent anbringen will, zum Absturz gebracht. Die Leiche spielte dabei der Vorgänger von Lukas Bühler als FSJler beim Alpenverein.

Solcherlei Mordgeschichten werden ihm erspart bleiben. „Das hat richtig Laune gemacht“, sagt Lukas, als er nach dem Abseilen wieder festen Boden unter den Füßen hat. Und doch wartet da noch ein Moment, auf den sich so mancher Kletterer bei allem Spaß an seinem Sport mordsmäßig freut: endlich raus aus den engen Schuhen.

In unserer Turm-Serie bereits erschienen:

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