Experte: Bis zu 7400 Kinder und Jugendliche im Landkreis Calw leben mit der Sucht der Eltern
Calw. Sucht und Familie – Risiken, Verläufe und Hilfen. Dieser Titel eines spannenden Vortrags lockte 94 Fachkräfte und Privatpersonen in den großen Sitzungssaal des Landratsamtes Calw. Der Vortrag von Michael Klein gab Einblicke zu den wichtigsten Forschungsergebnissen, den Versorgungsbedarfen und den notwendigen Innovationen zum Thema "Sucht und Familie".
Landkreis-Sozialdezernent Norbert Weiser hob die 45-jährige Zusammenarbeit mit dem baden-württembergischen Landesverband für Prävention und Rehabilitation (BWLV) hervor. Als örtlicher Träger der Jugend- und Sozialhilfe müsse man (auch) in Sachen Sucht und Familie stets helfen und bei Notwendigkeit eingreifen. Weiser freute sich deshalb besonders auf den Vortrag einen ausgewiesenen Fachmannes.
Nikolaus Lange, stellvertretender Geschäftsführer des veranstaltenden BWLV attestierte in seinem Grußwort der heutigen Gesellschaft "ziemlichen Handlungsbedarf". So spreche man im Landkreis Calw bei 155 000 Einwohnern von 5550 bis 7400 betroffenen Kindern und Jugendlichen. Diese Kinder und deren Eltern seien ganz besonders auf die Unterstützung des sozialen Umfelds und auf bedarfsorientierte, qualifizierte Hilfen angewiesen.
Michael Klein, Gastredner aus Köln, verdeutlichte, dass Angehörige von Suchtkranken, Kinder suchtkranker Eltern ein erhöhtes Risiko für eigene psychische Störungen aller Art, insbesondere eigener Suchtstörungen aufweisen. Die Gruppe der Kinder stelle dabei die größte Risikogruppe zur Entwicklung von Substanz- und Verhaltenssüchten auf.
"Generationengrenzen sind alkohollöslich"
Das Aufwachsen in einer suchtbelasteten Familie und das Zusammenleben mit Suchtkranken bringe großen Alltagsstress mit sich. Dies alles, obwohl suchtkranke Eltern eigentlich gute Eltern sein wollen. Zusammengefasst: Die Gefahr ist groß, dass Suchtverhalten innerhalb der Familie weitergegeben wird. Denn es gebe so etwas wie ein "Lernen von einem Modell"; hier kopiert das Kind sein Modell: das Verhalten der Eltern.
Die Versorgung der Kinder aus den betroffenen Familien ist in Deutschland noch nicht so weit, wie sie sein sollte. Klein wies auf die Mängel und Fehleinschätzungen in den Sozialgesetzbüchern, die Kranken- und Rentenversicherung regeln, hin. Wobei er Baden-Württemberg als "Einäugiger unter den Blinden" bescheinigt, bundesweit mit seinen Aktivitäten am weitesten zu sein. Das Thema ist in seiner Dimension immer noch nicht in allen Köpfen der Verantwortlichen und der Bevölkerung angekommen, da "wir meisterhaft tabuisieren und verdrängen".
Dabei gehören Suchtstörungen zu den wichtigsten und häufigsten psychischen Störungen. Die Frage nach ihren Auswirkungen auf die Familie, insbesondere Kinder, sollte somit die Regel und nicht die Ausnahme sein, so Klein. Das auf die Leinwand projizierte Bild "Mäßigkeitsbewegung" von 1880 machte es den Teilnehmern anschaulich, wie die Familie unter dem Sauf-Verhalten des Vaters litt. Der Vater geht in die Kneipe – das Kind ist hin und her gerissen; klammert sich an ihn – die Mutter leidet verzweifelt. Der Familienkonflikt ist evident, die Beschämung groß. "Die Generationengrenzen sind sozusagen alkohollöslich" beschreibt es Klein.
Suchtkranke Eltern werden von ihren Kindern oft als angstauslösend, unberechenbar, zurückweisend, ungerecht, verlogen, aufbrausend und kalt erlebt. Die Folgen zeigen sich frühzeitig in Verhaltens-Fehlentwicklungen (Beispiele: Unsicherheit, Überengagement, Vereinsamung, Depression, Vermeidungsstrategien). Die Schlussfolgerung ist deutlich, so Klein. Wer Suchtkranke behandelt, behandelt ganze Familien und viele psychische Störungen. Klein beleuchtete Suchtformen wie Alkohol- und Drogensucht mit Zahlen, Daten, Fakten. Die Spielsucht rücke zusätzlich immer mehr in den Vordergrund.
Die gute Nachricht. 25 Prozent der betroffenen Kinder entwickelten sich von vornherein positiv, zumal sie ein hohes Maß an Resilienz (Widerstandskraft) besitzen. Nach der mit vielen Zahlen unterlegten Problembeschreibung "Sucht ist die beste Methode, die Entwicklung von Kindern zu schädigen" zeigte der Kölner Referent Möglichkeiten zur Lösung auf: Frühintervention, Probleme zu identifizieren, Nachhaltigkeit, Steigerung des Selbstwertes, angemessener Persönlichkeitsschutz, umfassender Kinderschutz und Förderung der psychischen Gesundheit seien wichtige Ziele in der Arbeit mit Kindern aus suchtbelasteten Familien. Kinder litten auch in ihrem Umfeld. Gerade in Schulen bestünde die Gefahr, dass die Kinder ausgegrenzt werden, weil in der Regel bekannt ist, dass "ein Elternteil säuft". Immer wieder betonte Klein während seiner detaillierten Ausführungen, dass Empathie ein stetiger Begleiter sein müsse.