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Fünfteilige Serie beleuchtet die Angebote der Fachstelle Sucht. Teil vier: Selbsthilfegruppen

Ob Alkohol, illegale Drogen oder Glücksspiel – Suchtkrankheiten haben viele Gesichter. Beinahe ebensoviele Gesichter haben aber auch die Hilfsangebote der Fachstelle Sucht in Calw. In unserer fünfteiligen Serie stellen wir Ihnen einige davon vor. Teil vier: Selbsthilfegruppen.

Calw. Es gibt Erfahrungen und Lebenssituationen, die bleiben für die meisten Menschen unverständlich – bis sie sie selbst erlebt haben. Ein Beispiel sind Suchtkrankheiten. Ein wichtiger Baustein der zahlreichen Angebote der Calwer Fachstelle Sucht – deren Träger der baden-württembergische Landesverband für Prävention und Rehabilitation ist – sind daher die Selbsthilfegruppen, die von Menschen geleitet werden, die eine Sucht am eigenen Leib erlebt haben – aktiv oder passiv.

Bei einem Pressegespräch mit Peter Heinrich, zuständig für Öffentlichkeitsarbeit bei der Fachstelle, und vier Gruppenleitern haben die Suchtkrankenhelfer Einblick in ihre Arbeit gegeben.

Selbsthilfegruppen stellen eine Ergänzung zum therapeutischen Angebot dar. Die Sitzungen laufen in der Regel ohne Fachleute ab, werden von den hauptamtlichen Mitarbeitern der Fachstelle aber begleitet. Sie sind kostenlos und die Teilnehmer zur Verschwiegenheit verpflichtet.

Die Vorteile dieses Angebots? Ein Therapeut habe das Wissen zum Thema Sucht, aber die Gruppenleiter "haben das selbst erlebt", erläutert Heinrich. Darüber hinaus haben die Betroffenen hier einen niedrigschwelligen Zugang zu Hilfe, können sich auch außerhalb der Geschäftszeiten der Fachstelle austauschen und unterstützen – beispielsweise, wenn jemand in Versuchung gerät, rückfällig zu werden. Und: Es mache den Suchtkranken auch Mut, hautnah mit Menschen im Kontakt zu sein, die ihre Sucht in den Griff bekommen haben. Frei nach dem Motto: "Wenn er/sie es geschafft hat, kann ich das auch."

Treffen der Selbsthilfegruppen seien zudem eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen Suchtkranke wirklich frei reden könnten, führt einer der Gruppenleiter aus. Hier könne man sich sicher sein, nicht verurteilt, sondern verstanden zu werden. Auch für Angehörige von Betroffenen gebe es bei solchen Sitzungen viel zu lernen; in den Gruppen entstehe wechselseitig Verständnis füreinander.

Nicht zuletzt könne eine Gruppe die Betroffenen auch bei Rückfällen auffangen und Erfahrungen teilen, wie man mit solchen umgeht oder sie sogar vermeidet.

Vier Gruppenleiter haben uns von ihrem Leben und ihrer Arbeit erzählt. Zum Schutz der Persönlichkeit werden diese im folgenden nicht beim Namen genannt, sondern der Einfachheit halber als Person A, B, C und D bezeichnet.

Person A

Bei Person A verläuft der Weg in die Alkoholabhängigkeit, wie so oft, schleichend. Zunächst trinkt sie nur bei Festen. Später zu Hause – und irgendwann auch bei stressbehafteten Situationen, beispielsweise bei Behördengängen. Irgendwann gelingt nichts mehr ohne Alkohol. Ihre Kinder weigern sich, Freunde mit nach Hause zu bringen – weil nie klar ist, in welchem Zustand sie A zu Hause vorfinden. Eine erste Entgiftung verläuft ohne Ergebnis, A fängt wieder an zu trinken. Am Anfang hilft ihr Partner ihr noch dabei, den "Stoff" zu besorgen, später schüttet er die Flaschen aus. Alles vergeblich. Am Ende werden es 15 Jahre sein, in denen der Alkohol das Leben von A bestimmt hat. Erst, als sie sich nur noch krank fühlt und kaum noch das Bett verlassen kann – außer, um zu trinken – schafft sie es, sich wirklich in Behandlung zu begeben. Anders als bei ihrem ersten Kontakt mit der Fachstelle Sucht im Jahr 1979 weiß sie dieses Mal – 1983 –, dass sie es nicht alleine schaffen kann. Eine erneute Entgiftung und ein halbes Jahr Kur zeigen Wirkung: A hat den Teufelskreis durchbrochen. Und sie beschließt, anderen Menschen, denen es ähnlich geht, wie es ihr erging, zu helfen. Von 1986 bis 1989 absolviert sie eine Helferschulung, leitet ab 1989 eine offene Gesprächsgruppe für alle Suchtarten und seit einigen Jahren auch ein zwangloses Kontaktcafé. Eines ist A besonders wichtig: "Ich wünsche jedem, der zu mir in die Gruppe kommt, dass er nicht so weit fällt, wie ich gefallen bin."

Person B

Von einer anderen Erfahrung kann Person B berichten. Sie selbst war nie suchtkrank – dafür ihr Partner. Lange Zeit bemerkt sie nichts davon. Er trinkt heimlich, B fällt nur auf, dass er manchmal seltsam reagiert, auffällig ruhig oder aggressiv wird. Erst, als er eines Tages betrunken die Kellertreppe hinunterstürzt und sich einen doppelten Schädelbasisbruch zuzieht, kommt sie dahinter. Noch immer völlig benebelt beschließt Bs Partner, sich selbst aus dem Krankenhaus zu entlassen und mitten auf einer Straßenkreuzung darauf zu warten, bis er abgeholt wird. Dann stürzt er erneut, zieht sich weitere Verletzungen zu und wird in die Landesklinik eingeliefert. B macht danach eine klare Ansage: Jetzt müsse Schluss sein. Und doch, so ist B überzeugt, habe es Folgeschäden gegeben – verschiedene Krebsarten und Demenz, die sie dem Alkoholmissbrauch zuschreibt. Was aber vielleicht am schlimmsten sei: "Man kann die Jahre nicht zurückholen", die dem Trinken geopfert wurden. Seit 2003 leitet B Paargruppen bei der Fachstelle Sucht, in denen Paare die Möglichkeit haben, ihre Schwierigkeiten und ihre Situation aufzuarbeiten. B unterstreicht: Bei Sucht sei immer die ganze Familie betroffen. Und auch der Partner müsse sich erst in die Situation einfinden, dass der Betroffene nicht mehr konsumiere und plötzlich gewissermaßen ein neuer Mensch sei.

Person C

Stress und Überlastung sind die Ursachen für die Alkoholsucht von Person C. Im Jahr 1985 erkrankt ihre Großmutter, wird zum Pflegefall. C muss sich fortan um sie kümmern, arbeitet zudem im Betrieb der Eltern, führt sowohl deren, als auch den eigenen Haushalt und zieht die Kinder groß. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie nur gelegentlich getrunken; innerhalb von fünf Jahren greift sie jedoch nicht nur abends, sondern auch tagsüber zur Flasche. Im Jahr 1990 erleidet sie einen Hörsturz, merkt, dass etwas geschehen muss. Ihr Partner unterstützt sie dabei nur wenig. Als Cs Leidensgeschichte beginnt, fordert er sie sogar zum Trinken auf, weil sie sonst kaum zu ertragen sei. Später erklärt er, die Alkoholsucht gehe ihn nichts an, es sei ihr Problem. 1991 begibt C sich dann acht Wochen lang in Therapie, kommt in eine Selbsthilfegruppe speziell für Frauen. "Das war genau das Richtige", erzählt C. Seit rund 24 Jahren leitet sie eine solche Frauengruppe, die für Betroffene und Angehörige offen ist, selbst. Sie will damit auch Hilfe weitergeben, wie sie sie einst bekommen hat.

Person D

Die Geschichte von Person D beginnt bereits in dessen Jugendzeit. Zunächst an Wochenenden, später auch an Werktagen beginnt er zu trinken. Aus einem Feierabendbier werden langsam mehrere, immer tiefer rutscht D in den Sumpf der Abhängigkeit. "Hauptsache, morgens ist man wieder klar zur Arbeit gekommen", erzählt D. Das er ein Problem hat, das er dringend in den Griff bekommen muss, wird ihm erst klar, als er nach einem Krankenhausaufenthalt auf Krücken gestützt mit einem Rucksack zum Einkaufen humpelt und sich zehn Bierflaschen einpackt. Er denkt, dieser Vorrat müsste ja zwei oder drei Tage reichen – am nächsten Tag ist aber bereits alles weg. D lässt sich helfen, ist seit 2003 trocken. "Ohne Gruppe hätte ich das nicht geschafft", unterstreicht er. Eine Gruppe stärke das Bewusstsein, dass es sich bei Alkoholismus um eine schwere Krankheit handelt. Denn, so sagt er heute: "Alkoholiker sein ist nicht wie Schnupfen. Schnupfen geht weg. Alkoholiker bleibt man." Deshalb hat D auch noch immer Angst, irgendwann wieder abzurutschen. Nicht ohne Grund: In seiner Therapie lernte er einen Mann kennen, der 18 Jahre trocken gewesen sei – und dann rückfällig wurde. Seit etwa acht Jahren leitet er wie Person A eine offene Gesprächsgruppe für alle Suchtarten. Er schätzt die Unterhaltungen und das "ganz andere, zwanglose Verhältnis" zueinander als jenes, das zu Profis bestehe.