Thomas Weißer sprach über Werte, Moral, Verrohung und Rücksichtslosigkeit. Foto: Stöß Foto: Schwarzwälder Bote

Bildung: Referent befasst sich im Haus der Kirche mit dieser Frage / Folge einer "sich verändernden Gesellschaft"

Werte – was zählt heute noch? Für manchen scheint das klar: Die Jugend liebt Luxus, hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor älteren Leuten und schwatzt, während sie arbeiten sollte. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft und tyrannisieren ihre Lehrer.

Calw. Als der Referent diese Feststellung an die Wand projizierte, ging ein Raunen durch die Zuhörerreihen.

34 Interessierte folgten der Einladung der evangelischen Erwachsenenbildung Nördlicher Schwarzwald ins Haus der Kirche in Calw. Hieß es doch im Vorfeld des Vortrages von Thomas Weißer: "Wir leben in merkwürdigen Zeiten. Einerseits haben viele Menschen das Gefühl, dass der Umgang miteinander verroht. Rücksichtslosigkeit und Ellenbogenmentalität nehmen zu. Respekt und Höflichkeit bleiben auf der Strecke." Andererseits stelle man fest, dass sich viele Menschen freiwillig für andere engagieren; in der Nachbarschaft, im Umgang mit Flüchtlingen, mit Alten.

Tobias Götz, der Geschäftsführer der Erwachsenenbildung, stellte bei der Begrüßung einen Zusammenhang der politischen Ereignisse der vergangenen eineinhalb Wochen zu diesem "sehr spannenden Thema" her.

Der Referent, selbst Professor des Lehrstuhls der theologischen Ethik in Bamberg, bestätigte diese Aussage. Alleine mit den Ereignissen der jüngsten Vergangenheit könne man mehr als einen Nachmittag füllen. Er wolle ein paar Aspekte an die Hand geben, um die Ereignisse neu in den Blick nehmen zu können. Eine Wertediskussion sei immer eine Folge einer "sich verändernden Gesellschaft".

Heute könne Technik und Wissenschaft Einfluss auf das eigene Wertebewusstsein nehmen (Beispiele: Reproduktionsbiologie/Aktive Sterbehilfe). Zudem spiele der "ökonomische Druck sowie das Diktat der Wirtschaft" eine zentrale Rolle. Als Beispiel nannte er die Kostenersparnisse im Krankenhauswesen und Pflege. Man spreche sogar von Humankapital. Dabei seien es heutzutage die Menschen selbst, "die das eigene Leben bestimmen müssen". Das sei umso schwieriger, weil das Leben inzwischen "global geworden ist". Zu allem komme, dass das Leben "vielfältig und bunt" geworden sei. Heute sei "alles möglich". Das biete Chancen. Beinhalte aber auch die Frage: "Woran kann ich mich überhaupt noch orientieren?". Eine andere Grundfrage ist "Was hält eine Gesellschaft zusammen?". Veränderung wird oft als "Verrohung, Rücksichtslosigkeit und der Suche nach dem eigenen Vorteil wahrgenommen". Zudem brächten Menschen, die nach Deutschland kommen, ihre eigenen Kulturen, Riten und eben eigene Werte mit, sagt Weißer. So treten Wertunterschiede wie das Kreuz oder das Kopftuch zu Tage.

Dem allem stehe so viel ehrenamtliches Engagement, wie es nie zuvor gab. Gerade hier stellt man gerne fest: "Veränderung finde von unten statt."

Die entscheidende Frage stellt der Referent: "Gibt es, bei allen Unterschieden nicht etwas Verbindliches, etwas Tragendes; sprich, gibt es keine Werte, die alles teilen?"

Der Ruf nach Werten ist immer wieder aktuell. Derzeit ist er wieder aus verschiedenen Richtungen zu hören. Beispielhaft nannte er den Ruf nach "Anstand und Moral". Je nach politischen und subjektiven Überzeugungen unterscheiden sich die Gewichtungen der Werte. Mehr noch: Den Werten wird hier und da eine Art Superkraft zugeschrieben. "Die müssten doch in der Lage sein, so oder so zu handeln."

Doch was steckt hinter diesem "schillernden Begriff" fragte der Referent, um dann nach "materiellen und ideellen Werten" zu unterscheiden.

Ideelle Werte definierte Weißer als "konkrete, gesellschaftlich geteilte Auffassungen, über etwas, was erstrebenswert ist". Diese zu erleben sei möglich bei menschlichen Beziehungen, Freunden und Kollegen, im Beruf, im sozialen Umfeld, in der Wissenschaft und nicht zuletzt im Recht. Es ginge um die Vorstellung, was gut und richtig sei.

Doch auch die Werte selbst können "veralten, sich verändern". Man denke nur an das Frauenbild in der Nachkriegszeit oder dass gar die "Ehre so verstanden wird, dass man dafür jemand tötet". Deshalb sei es gut, dass es auch Werteveränderungen gebe, vermittelte Weißer.

Es gebe auch Werte die sich universell über alle Kulturen erstrecken – wie Macht, Erfolg, Liebe, Sicherheit, um nur einige zu nennen. Doch dann, wenn Menschen auf unterschiedliche Werte zurückgreifen, wo sich Werte sogar widersprechen, entstehen Probleme. In den Werten selbst liegt somit Konfliktpotenzial.

Anhand dieser Erkenntnissen, sei die Frage interessant, was Werte alles können.

Einfluss auf das Verhalten anderer kann man nicht erzwingen

Sie stellen eine Orientierungshilfe dar, begründen Regeln und Normen und wirken kritisch und herausfordernd. Und genau hier wurde auch deutlich, dass Werte und Moral (Normen) verschiedene Begriffe sind. Während die Moral und Normen Handlungshinweise für eine bestimmte Situation vorgeben, zeigen die Werte, was wirklich wichtig ist.

Bei der Diskussionsrunde wurde aus dem Publikum der Ruf nach Regeln und deren Einhaltung laut. Weißer stimmte zu, dass die Einhaltung der Regeln notwendig sei. Wobei das Vorleben dabei wichtig sei. Auch sei es entscheidend, wie man auf den anderen zugehe. Einfluss auf das Verhalten anderer könne man nicht erzwingen. Bewusstsein schaffen schon. Entscheidend sei, welche Gewichtung man selbst auf die eigenen Wertvorstellungen legt. Wobei er klarstellte, dass das "Verstöße" gegen Wertvorstellungen explizit kein Problem von Jugendlichen sei. Eine Aussage, die mit zustimmendem Raunen aufgenommen wurde.

Übrigens: Den Verriss über die "heutige Jugend" zu Beginn des Artikels stammt vom griechischen Philosophen Sokrates. Dieser starb im Jahr 399 vor Christus, also vor fast zweieinhalbtausend Jahren.