Andreas Reichstein (von links), Sebastian Kirsch und Arne Rausch sprechen über die Auswirkungen der Pandemie auf Menschen in Armut. Foto: Stöß

Vertreter der Erlacher Höhe berichten über Auswirkungen. Nicht nur das Verhungern verhindern.

Calw - Die Corona-Pandemie ist mittlerweile bis in die feinsten Fasern von Institutionen, Firmen und Privatpersonen eingedrungen. Die Erkenntnis: Kein Mensch bleibt verschont. Doch was macht Corona ganz konkret mit Menschen in Armut und Wohnungsnot? Darüber klären Vertreter der Erlacher Höhe auf.

Wolfgang Sartorius, geschäftsführender Vorstand der Erlacher Höhe, Andreas Reichstein, Leiter der Abteilung Calw/Nagold sowie Sebastian Kirsch, Teamleiter der Wohnungslosenhilfe zeigten dem Schwarzwälder Boten erhebliche Mängel und Nöte auf. Um am Ende glasklare Forderungen in Richtung Politik zu senden.

"Jetzt weiß man, was zu tun ist"

Sartorius machte deutlich, dass durch die noch nie dagewesene Situation Behörden und Einrichtungen an Grenzen stießen, wie es vorher noch nie der Fall war. Zunächst "ist da auch niemanden ein Vorwurf zu machen. Aber jetzt, wo die Zahlen wieder ansteigen, kommt es darauf an, Konsequenzen aus Erlebtem zu ziehen und aus Versäumnissen sowie Fehlentwicklungen zu lernen", so Sartorius. Ein Beispiel: "In der Kürze der Zeit konnte man damals nicht die hygienischen Vorrichtungen in Bädern und Toiletten in Sammelunterkünften treffen, die notwendig gewesen wären. Jetzt weiß man, was zu tun ist."

Reichstein lobte das Gesundheitsamt, deren Mitarbeiter stets mit Rat und Tat zur Seite standen. Gerade was die Dringlichkeit von Tests anbelangt, sei die Behörde im Landratsamt vorbildlich. Dort sei sofort klar gewesen: "Wir testen, testen, testen.", "Was gerade für eine Gemeinschaftseinrichtung wie die unsere besonders wichtig war", so Reichstein. Sartorius untermauerte: "Wenn man auf einer Notenskala von 1 bis 6 bewertet liegt Calw mit einer ›2‹ ganz vorne an der Spitze." Er arbeite im Land mit sieben Gesundheitsämtern zusammen. Da sei auch schon mal ein "ungenügend" dabei. Für Reichstein sei wichtig, "dass Tests weiterhin rasch durchgeführt werden. Denn bevor jemand ins Haus neu einzieht, muss klar sein, dass diese Person infektionsfrei ist."

Drei Wochen lang "wie weggesperrt"

Kirsch machte deutlich, dass die Menschen ausschließlich in Einzelzimmern wohnen. Von den 20 Zimmern in Calw wurden zuletzt drei in Quarantäne-Zimmer umfunktioniert. Das bedeutet, dass die ohnehin sehr angespannte Wohnsituation, verschärft wurde. Die Folge: Die Wartelisten, die es gibt, seien noch voller geworden. Menschen, die in Quarantäne mussten, gelangten nach wenigen Tagen an psychische Grenzen. Am Beispiel eines Bewohners, der letztendlich drei Wochen "wie weggesperrt war", wurde der Verlauf offenbar. Er sei seelisch am Ende gewesen, in Depressionen verfallen, sei am Ende nicht mal mehr in der Lage, gewesen, zu essen oder sich zu waschen", erzählt Kirsch. Er gab zu, dass selbst die Sozialarbeiter der Einrichtung die psychischen Belastungen ein "bisschen unterschätzt haben". Daraus folgere Kirsch, dass "man in Zukunft nochmals eine Schippe drauflegen muss, um sich um die Betroffenen adäquat kümmern zu können – damit es nicht zu gravierenden Folgeschäden, hervorgerufen durch die Quarantäne, kommt". Der persönliche Kontakt sei unabdingbar.

Kritik an Behörden

Verschärfend sei für die Erlacher Höhe noch hinzugekommen, dass zeitweise notwendige, stationäre Suchtbehandlungen in psychiatrischen Einrichtungen nicht abgehalten wurden, da dort die Kapazitäten für potentielle Corona-Patienten freigehalten wurden. Neue suchtbedingte Aufnahmen fanden nicht mehr statt. Das führte sogar dazu, dass man "hier im Haus kalte Entzüge machen musste; mit Menschen die akut hilfebedürftig waren".

Die Betroffenen hätten bei Behörden und Institutionen teilweise niemanden mehr persönlich angetroffen. Gerade diese Institutionen haben sich "recht zügig weggeduckt". Darauf baut sich die harsche Kritik (Zitat Vorstand Sartorius) auf, dass so etwas "gerade nicht mehr passiert". "Die Behörden dürfen da nicht einfach die Rollläden herunterlassen mit dem Hinweis, die eigenen Mitarbeiter schützen zu wollen."

Doch diese Forderung war nicht die Einzige. Sartorius hatte einen ganzen Forderungskatalog für Politik und Gesellschaft im Gepäck. Für Sartorius ist klar, dass "der beste Schutz vor Wohnungslosigkeit eine gelungene Wohnungsbaupolitik ist."

Von angemessenen Regelsätzen in Grundsicherung könne mit der soeben beschlossenen Sieben-Euro-Erhöhung darüber hinaus nicht gesprochen werden. Vielmehr spricht Sartorius von einer "hanebüchenen Berechnung" der Sätze. Man könne von Hartz-IV nur leben, wenn man auch zu Tafeln, Sozialkaufhäusen, Mittagstischen und Gebrauchtwarenläden gehe. Deswegen wiederhole man die Forderung, dass "das, was das Bundesverfassungsgericht erneut eingefordert hat, endlich umgesetzt wird: Psychosoziale Teilhabe – und nicht nur ein Verhindern von Verhungern".

Unterkünfte ausrüsten

Als "ganz neuralgischen Punkt" bezeichnen die Vertreter der Erlacher Höhe die "kommunalen Obdächer". Die Kommunen seien seit jeher gesetzlich verpflichtet, "obdachlose Bürgerinnen und Bürger in einfachen und zweckmäßigen Unterkünften zu beherbergen". Was einst diese Kriterien erfüllte, habe sich in der Pandemie als unzureichend erwiesen, weil die Hygiene-Standards nicht eingehalten würden. In diesem Bereich müsse nachgebessert werden, betonte Sartorius. "Damit die Menschen die Chance haben, das zu tun, was von ihnen verlangt wird: nämlich Hygieneregeln einzuhalten". Man müsse Desinfektionsmittel, Duschen und Wechselwäsche zur Verfügung stellen.

Da hatte der Erlacher Höhe-Mitarbeiter Arne Rausch mehr Glück. Als Betroffener schilderte der Mitarbeiter der Wäscherei, wie sich Quarantäne, Einsamkeit und Isolation auf sein Leben ausgewirkt hatten. Rausch bezeichnete es als "Glück, dass er zu Corona-Zeiten in der Wäscherei der Einrichtung weiter arbeiten darf". Das verleihe ihm Tagesstruktur. Die brauche er, denn er ist alkoholabhängig. Ansonsten verhalte sich Rausch diszipliniert und vorsichtig; hält lieber mehr Abstand zu anderen Menschen. Seelisch sei die Situation dennoch sehr belastend.

Reichstein versprühte am Ende Zuversicht. Die Erlacher Höhe werde alle begleitenden Angebote aufrecht erhalten. Denn man habe erkannt, dass man alles dafür tun müsse, um für die Tagesstruktur der Betroffenen zu sorgen. Eben, um Isolation zu vermeiden.