Calw/Villingen-Schwenningen/Lörrach/Berlin - SPD-Chef Sigmar Gabriel zeigt ein Herz für Kinder – und für Erzieherinnen. "Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass diese hochwertige und fachlich anspruchsvolle Tätigkeit als schlecht bezahlter sogenannter ›Frauenberuf‹ etikettiert wird", schreibt er an SPD-Kommunalpolitiker. Ab morgen werden sich aber auch Gabriel und seine Frau, eine Zahnärztin, Gedanken machen müssen, von wem sie Töchterchen Marie (3) betreuen lassen können. Denn dann werden kommunale Kitas bestreikt. Mittwochnachmittage gehören Marie, sagt Gabriel. Aber was ist am Mittwochmorgen, wenn Gabriel im Kabinett sitzt?

Die Gewerkschaften rufen zum unbefristeten Streik auf, wie den Gabriels geht es Hunderttausende Eltern. Auch in Calw: Die Streikwelle wird die Kindergärten in der Hermann-Hesse-Stadt voll erwischen. Von den insgesamt 17 Tagesbetreuungseinrichtungen werden morgen nur vier Gruppen geöffnet sein. Im gesamten Kreis ist im Moment nur die eine Stadt betroffen. Das kann sich aber schnell ändern, da es – so Verdi-Gewerkschaftssekretärin Amely Poll – immer wieder mal auch kleinere Gemeinden gibt, die sich anschließen wollen. Als in Calw jüngst schon einmal für einen Tag gestreikt worden ist, wurde von der Stadtverwaltung ein Notfallplan ausgearbeitet. Und das hat man auch dieses Mal getan.

In den städtischen Kindergärten Villingen-Schwenningen halten sich die Auswirkungen des Streiks dagegen in Grenzen. Lediglich drei von insgesamt 18 Einrichtungen werden voraussichtlich komplett geschlossen sein, drei weitere Einrichtungen werden teilweise bestreikt und daher eingeschränkt geöffnet haben. Um die Auswirkungen zu kompensieren, werden in drei der betroffenen Einrichtungen Notgruppen eingerichtet sein.

Anderswo ist unklar, wo die Mamas und Papas vor verschlossenen Türen stehen werden. In Lörrach zum Beispiel. Der Fachbereichsleiter "Jugend, Schulen, Sport" bei der Stadt, Thomas Wipf, sagte unserer Zeitung gestern Nachmittag, es sei noch nicht bekannt, ob und wie viele Erzieherinnen sich am Streik beteiligen werden.

Urlaub einreichen können Berufstätige natürlich jederzeit, die Genehmigung obliegt allerdings auch während eines Streiks dem Chef. Ist der Jahresurlaub aufgebraucht, können Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbaren, dass stattdessen Überstunden abgebaut oder Minusstunden aufgebaut werden.

Heute sind die Erzieherinnen noch im Einsatz, beispielsweise die Gruppenleiterin Nese Yesilok. Sie ist in einer städtischen Kindertagesstätte in Stuttgart-Neugereut für den Bereich Forschung zuständig. Yesilok ist seit 20 Jahren im Beruf. Neugierig Sachen zerlegen, das war früher nicht drin. "Meine erste Fortbildung war ein Versuch; es ging um die Frage, wie kommt eine Kita ohne Spielsachen zurecht?", sagt die 43-Jährige, "heute experimentiere ich mit den Kindern und erforsche mit ihnen zum Teil auch Dinge, die mir selbst neu sind."

Früher habe sie sich für den morgendlichen Stuhlkreis nur ein Lied ausdenken müssen, heute nutze sie die Vorbereitungszeit, um klare Pläne aufzustellen. Sie sitzt beim Mittagessen dabei, saugt die Pfützen umgefallener Gläser auf, wischt Püree-Kleckse von rosa Kleidchen und erzählt eine spannende Geschichte, wenn die Unruhe im Esssaal zu groß wird. Ihr selbst steht eine halbe Stunde Mittagspause zu, danach ist sie für die Hortkinder aus der benachbarten Schule zuständig, um 17 Uhr ist Feierabend.

Zweimal pro Woche sitzt Nese Yesilok vor dicken Ordnern. Portfolio nennt sich die Kladde, die für jedes Kind angelegt ist. "Ich beschreibe, womit sich das Kind beschäftigt und welche Entwicklung es durchläuft. Darüber rede ich zwei Mal im Jahr mit den Eltern." Auch das gab’s vor 20 Jahren nicht.

Die Ansprüche, die Eltern heute an Bildung und Erziehung stellen, sind hoch. Deshalb haben die Erzieherinnen momentan noch mehrheitlich die Öffentlichkeit auf ihrer Seite. "Die Öffentlichkeit sympathisiert mit den Forderungen der Erzieherinnen, sogar noch mehr als 2009", sagt der Erlanger Soziologe Stefan Kerber-Clasen, der zum Thema Arbeitskämpfe im Erziehungsbereich forscht. Allerdings können die Sympathien bei einem langen Streik auch ins Gegenteil umschlagen.

Denn für die Eltern bedeutet Kita-Streik Stress im Beruf. Sie müssen kurzfristig eine Kinderbetreuung finden, Termine verschieben, Schichten tauschen, Urlaub nehmen. Stress, den die Beschäftigten vor Augen haben. "Streit mit den Eltern war im Jahr 2009 sehr belastend für die einzelnen Erzieherinnen und Erzieher", sagt Kerber-Clasen. Nach wochenlangen Streiks gab es irgendwann sogar Gegendemos der Eltern. Da hieß es dann auf Plakaten: "Kleine Kinder weinen still, weil Verdis starker Arm es will."

Den ethischen Konflikt, Unbeteiligten zu schaden, gibt es immer im Dienstleistungsbereich, "im Sozialen natürlich besonders", sagt Achim Meerkamp, Bundesvorstandsmitglied bei der Gewerkschaft Verdi. "Das kann aber nicht heißen, dass sich Beschäftigte deshalb grundsätzlich mit zu niedrigen Löhnen und geringen Karrierechancen abfinden müssen." Verdi habe sich diesmal früh mit Elternvertretern zusammengesetzt, um Lösungen für diese Konflikte zu finden und außerdem Informationen über Streiktermine so rechtzeitig bekannt gegeben, "dass Eltern sich vorbereiten können".

Ein Streik bis zu den Pfingstferien ist für Berufstätige der Horror

In den vergangenen Streikphasen hatten die Gewerkschaften sich auf Notdienste verständigt, auch für diesen Streik signalisiert Verdi Einverständnis: "Wo es möglich ist, werden Notdienstvereinbarungen mit den kommunalen Arbeitgebern getroffen", heißt es gestern in einer Pressemitteilung.

In der Landeshauptstadt haben die Verhandlungen über Notdienste bereits gestern Abend begonnen. Wie das Jugendamt verlauten ließ, habe man sich auf Notdienste in 15 Kitas mit insgesamt 17 Gruppen für jeweils 18 Kinder geeinigt. Darüber hinaus bietet die Stadtverwaltung ihren Mitarbeiter die Möglichkeit, ihre Kinder zur Arbeit mitzubringen, falls die Familie keine alternativen Betreuungsangebote zur Verfügung hat.

Finanziell profitieren die Kommunen zunächst von dem unbefristeten Streik. Die Personalkosten der streikenden Erzieher zahlt die Streikkasse der Gewerkschaften, an jedem Streiktag werden also Gehälter gespart. Die Kita-Gebühren werden den Eltern trotzdem abgebucht – ob die Kita geöffnet hat oder nicht. So wie in Stuttgart wurden Gebühren während des Kita-Streiks im Jahr 2009 auch von anderen Kommunen zwar zurückerstattet, "rechtlich geklärt ist die Frage aber nicht", sagt Norman Heise von der Bundeselternvertretung der Kinder in Kindertageseinrichtungen. In vielen Kitas informierten die Träger die Eltern bereits darüber, dass bei Streiks kein Anspruch auf Rückerstattung der Gebühren bestehe mit der Begründung, die Arbeitsniederlegung sei "höhere Gewalt".

Wie lange diese währt, soll heute bekannt werden. Bis zum Wochenende? Oder bis Pfingsten?

Info: Rechte berufstätiger Eltern

Zu Hause bleiben dürfen die Eltern schon, allerdings unter bestimmten Voraussetzungen: Der Arbeitgeber muss so schnell wie möglich informiert werden, und es darf keine alternative Betreuungsmöglichkeit zur Kindertagesstätte geben, zum Beispiel bei Freunden, Nachbarn oder den Großeltern.

Mit einer Abmahnung oder gar Kündigung ist nicht zu rechnen, wenn sich der Arbeitgeber an den oben genannten Schritt hält.

Mit Lohnkürzung bis hin zur fristlosen Kündigung können Arbeitgeber reagieren, wenn der Arbeitnehmer ohne Ansage einfach zu Hause bleibt.

Kinder mit zur Arbeit nehmen ist nur dann möglich, wenn das vorher mit dem Chef abgesprochen ist. Rechtlich gesehen ist es möglich, dass Vorgesetzte ihren Mitarbeitern verbieten, ihre Kinder mit ins Büro zu nehmen.

Urlaub einreichen können Berufstätige natürlich jederzeit, die Genehmigung obliegt allerdings auch während eines Streiks dem Chef. Ist der Jahresurlaub aufgebraucht, können Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbaren, dass stattdessen Überstunden abgebaut oder Minusstunden aufgebaut werden.

Alternativ zur Kita können Freunde, Großeltern oder Nachbarn aufs Kind aufpassen. Manche Elternkreise wechseln sich dabei reihum ab. Bleibt die Kita über längere Zeit geschlossen, können Eltern einen Antrag auf Rückerstattung einreichen.