So sah es an der heutigen Ecke Markt-/Lederstraße 1972 aus: Das 1910 umgebaute, teils schon geräumte Gebäude Marktstraße 3 mit dem Laden für Hausratsgegenstände wird bald nach Aufnahme des Fotos abgebrochen. Foto: Schwarzwälder Bote

Heimatgeschichte: Das Tagebuch des Calwers Heinrich Essig hält Persönliches und jede Menge Zeitgeschichte fest

Von Hans Schabert

Eine "bunte Mischung familiärer, örtlicher und auch politischer Feststellungen, letztere vor allem ab der Ära des Ersten Weltkriegs bis zum Start der Hitler-Diktatur" – so beschreibt der Kreisgeschichtsverein Calw das Tagebuch von Heinrich Essig. Geschichte, die lebendig wird – und nun jedermann zugänglich gemacht wurde.

Calw. Eigentlich wollte die Familie nur wissen, was in dem gefühlt wertvollen, gebundenen, weinroten Büchlein in deutscher Handschrift von Heinrich Essig festgehalten wurde. Deshalb machte sich Urenkelin Heidi Brenner im Herbst 2019 zum früheren Calwer Kreisarchivar Jürgen Rauser auf. Er transkribierte die Texte des Handwerksmeisters, der mit einem bis heute in Heumaden existierenden Betrieb 1887 in der Calwer Innenstadt startete.

Gerne wurde Rausers Anregung beim Kreisgeschichtsverein Calw (KGV) aufgenommen, die dabei zutage gekommenen Erinnerungen einem interessierten Leserkreis zugänglich zu machen. Wortgewandt vermittle das Tagebuch als Zeitdokument ein Stück Lebenswelt der wilhelminischen Ära im Spiegel eines Zeitgenossen, stellt der Fachmann fest.

Mit 88 Seiten im Hardcover-Einband ist nun der kleine Band unter dem Titel "Das Tagebuch von Heinrich Essig (1862-1934) – Historische Zeiten von einem Calwer Handwerksmeister lebendig geschildert" vom KGV herausgegeben worden.

Nicht immer stimmen Einschätzungen mit späterer historischer Bewertung überein

Ergänzt werden die Texte durch drei Dutzend, teils bunte Fotos. Darunter ist ein vom Stadtarchiv zur Verfügung gestellter Stadtplan Calws aus dem Jahr 1928. Im Buchhandel und beim KGV ist das Büchlein für acht Euro erhältlich. Hingewiesen wird darauf, dass die Aufschriebe die Betrachtungen eines wachen Bürgers wiedergeben, was nicht immer späterer historischer Bewertung entsprechen muss.

So lautet der letzte Eintrag am Ostermontag 1933, neun Monate vor dem Tod des Tagebuchschreibers: "Am 5. März 1933 ist Herr Adolf Hitler Reichskanzler geworden, der nun eine allgemeine Säuberung im ganzen deutschen Vaterland vornimmt." Zunächst schildert – um vorne zu beginnen – Heinrich Essig, wie er nach seiner Konfirmation 1876 bei Julius Feldweg in die Lehre kam und danach kreuz und quer durchs Land an verschiedenen Arbeitsstellen tätig wurde. So kam er von Stuttgart aus zur Musterung, wo er "zu den Pionieren ausgehoben, dann am 8ten November 1883 nach Ulm ausrücken mußte".

Dann folgt vielfacher Drill mit Exerzieren, Bau von Hurden (eine Art geflochtene Wand) oder Faschinen (walzenförmige Reisig- oder Rutenbündel) aus selbst geschlagenem Material zur Sicherung des Ufers der Iller, Erstellung von Lagern und Unterständen. Von Brückenbauten zu Land und zu Wasser ist zu lesen. Offenbar unterbrochen wurde der Dienst am 14. und 15. Juli 1884 zum großen schwäbischen Sängerfest, "wo der Calwer Liederkranz auch daran teilnahm und ich viele Bekannte traf". Nach einem knappen Jahr folgten Belagerungsübungen und teils strenge Arbeit im badischen und pfälzischen Ausland sowie Übungen bei Knochenkälte und brütender Hitze. Drei Jahre dauerte der Pflichtdienst.

Essig beschreibt dann, wie er zusammen mit seiner Frau, Luise Wilhelmine Essig, geborene Feldweg, der Tochter seines ehemaligen Lehrmeisters, seine Familie und seinen Handwerksbetrieb aufbaut. Hochs und Tiefs wechseln sich wie in jedem Leben ab. Der Vater stirbt 1900, 1902 kommt zu Weihnachten unerwartet nach 25-jähriger Trennung Bruder Hermann aus Amerika zu Besuch und bleibt bis Februar. Ein Bruder arbeitet eine Zeit lang in Südrussland, ein anderer "hat Baden verlassen und ist nach Stuttgart übersiedelt". Zwei Nachbarhäuser werden gekauft. Der Bruder der Frau wird Schultheiß in Höfen. Die Aufzeichnungen über die Zeit vor, im und nach dem Ersten Weltkrieg folgen.

Sohn Heinrich wird 1916 durch einen Granatsplitter in Frankreich verwundet, und es muss ihm einige Monate später unter dem Knie ein Bein abgenommen werden. Vielerlei Schilderungen betreffen die Kriegsjahre, etwa wie 1917 vier Glocken aus der Stadt hinausgefahren werden oder wie 1918 Könige und Kaiser stürzen. 1921 sei ein Jahr des Kriegs nach dem Krieg, ein Jahr des schärfsten Wirtschaftskrieges gewesen, heißt es Anfang 1922. Im November 1923 sind die Kosten für einen Liter Milch am 11. mit 18 Milliarden, am 25. mit 220 Milliarden Mark notiert. "Die Papiermark ist so gut wie tot", hält der Tagebuchschreiber dazu fest.

Zu Neujahr 1909 sind laut Heinrich Essigs Tagebuch alle fünf Kinder versammelt. Die Älteste, Amalie (20), war schon zwei Jahre in der französischen Schweiz, arbeitet in Trier; sie landet einige Monate später als Kinderfräulein in Paris. Heinrich als späterer Geschäftsnachfolger (18) ist im Betrieb, Luise (15) befindet sich "so im richtigen derben Backfischalter". Julie (12) ist "eine frohe, heitere Natur, fragt nach dem Lernen nicht so viel". Hermann (8) ist ein "lieber guter Junge, etwas schwerfällig". Nach seiner Kriegsverletzung führt der zweite Heinrich bis 1950, nach ihm ein dritter Essig mit diesem Vornamen, den Betrieb, wie Heidi Brenner im Anhang des kleinen Buches berichtet. Da der vierte Heinrich einen anderen Weg einschlagen wollte, sprang ihre Tochter und Ur-Urenkelin des Gründers, Jana Brenner, in die Bresche und leitet seit 2002 die Essig-GmbH.