Kultur: Internationales Herman-Hesse-Kolloquium tagt in Calw / "Dialektik von Heimat und Weltoffenheit" beleuchtet

Das Thema Heimat ist zum Reizthema geworden dieser Tage. Manche missbrauchen das Wort geradezu als politischen Kampfbegriff – um Fremde und Fremdes auszugrenzen, als Rückzugsort für nationalistisches Gedankengut. War es also Kalkül, dass das Internationale Herman-Hesse-Kolloquium sich dieses Jahr Heimat zum Thema gewählt hat?

Calw. "Heimat und Weltoffenheit bei Hermann Hesse" hieß denn die Überschrift der dreitägigen Tagung in Calw – bereits der Titel ist Programm.

Dass Hesse, der 1877 geborene Großdichter und Nobelpreisträger aus Calw, ein höchst schwieriges Verhältnis zu seiner Heimatstadt hatte, dass auch die Calwer ihrem "großen Sohn" über Jahrzehnte nicht gerade wohlgesonnen waren – das alles ist Hesse-Lesern bekannt.

Herbert Schnierle-Lutz, der Erfinder und Organisator des "Gerbersauer Lesesommers", geht in seinem Vortrag nochmals darauf ein. Da gebe es ja diesen berühmten Satz des Dichters, den Calwer so gerne zitierten. Calw sei "die schönste Stadt zwischen Bremen und Neapel, zwischen Wien und Singapore". Doch Schnierle-Lutz rückt da etwas zurecht: Hesse beschreibt den Satz nämlich im Rückblick, wie schön es denn gewesen sei, "einmal eine Heimat gehabt zu haben". Tatsächlich sahen die Calwer Hesse über Jahrzehnte als "schwarzes Schaf", Calw habe er in seinen Gerbersauer Erzählungen "nicht schön genug dargestellt", zeitweise sei in Calwer Buchläden kein einziges seiner Bücher zu finden gewesen – und auch später, zu seinem 80. Geburtstag, sei die damals angedachte Umbenennung des Gymnasiums vom Gemeinderat und der Lehrerkonferenz abgelehnt worden. Erst nach dem Tod Hesses war es dann soweit.

Ein Höhepunkt der Tagung war auch der Abschlussvortrag, gehalten von Karl-Josef Kuschel, dem Präsidenten der Gesellschaft. Kuschel, Theologieprofessor aus Tübingen, nähert sich dem Thema Hesse und Heimat denn von einer anderen Seite. Es geht ihm um Hesse, den "Morgenlandfahrer", den Kenner und Erforscher fernöstlicher Religionen. Was hat Hesse im Buddhismus, im Hinduismus, in der Lehre des Konfuzius gesucht, was gefunden – und wie verhält sich das zum Christentum, zum Pietismus und zur Heimat? "Hier wurde in der Bibel gelesen... hier waren Buddha und Laotse bekannt", heißt der Titel seines Vortrags.

Der angehende Dichter Hesse, Spross einer weitverzweigten Missionarsfamilie, wurde früh "vom Osten" umweht, prägend war vor allem der Großvater, der in Indien missionierte. "Er verstand alle Sprachen der Menschen, mehr als 30, vielleicht auch der Götter, vielleicht auch der Sterne... Er war viele Jahre und Jahrzehnte in östlichen, heißen und gefährlichen Landen gewesen, auf Booten und in Ochsenkarren gereist...", schrieb Hesse später über den alten, ehrwürdigen Mann mit dem weißen Bart, der gewusst habe, "dass unsre’ Stadt und unser Land und unser Erdteil nur ein sehr kleiner Teil der Erde war" – und dass Millionen anderer Menschen andere Sitten, andere Sprachen und andere Götter hätten.

Bereits als Pubertierender durchforscht Hesse die Bibliothek des Großvaters, entdeckt Bilder und Bücher Buddhas. "Die Eindrücke sind unauslöschlich", so Kuschel. "Ohne Indien gäbe es Herman Hesse nicht und auch nicht das Werk des Dichters."

1911, als 34-Jähriger, unternimmt der Dichter schließlich selbst eine Asienreise, muss diese aber aus gesundheitlichen Gründen abbrechen, auf den ersten Blick sei die Reise zum Fiasko geworden, meint Kuschel. Hesse habe das indische Festland nicht einmal betreten. Der Faszination des Ostens, der fernöstlichen Religionen tut das aber keinen Abbruch. Hesse, der ebenso unermüdliche wie disziplinierte Vielleser, wendet sich neben dem Hinduismus und Buddhismus auch den Lehren des Konfuzius zu. "Viele Welten strecken ihre Arme aus", meint Kuschel. Hesse erlange "weltreligiöses Bewusstsein".

Lagerdenken überwinden

Zugleich "nimmt Hesse Abschied vom Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Religionen". Die Beschäftigung mit dem anderen, den fernöstlichen Religionen lasse Hesse das "religiöse Lagerdenken" überwinden – und damit letztlich "den Herrschaftsanspruch des weißen Mannes".

Enge und Weite, "kleine Welt und große Kultur" sowie "pietistische Frömmigkeit und die weite Asiens", so Kuschel, formten den Dichter. Ausgrenzung gibt es dabei nicht, keine Religion ist einer anderen überlegen, die eigene Heimat ist nicht besser als die der Anderen. "Dialektik von Heimat und Weltoffenheit", nennt das Kuschel. "Die erworbene Weltoffenheit lässt die Heimat anders sehen." Ein hellsichtiger Vortrag – gerade in diesen Zeiten.