Liesel Binzer, Holocaust-Überlebende, erzählte von ihren Kindheitserinnerungen. Foto: Rousek Foto: Schwarzwälder Bote

Geschichte: Holocaust-Überlebende Liesel Binzer erzählt von ihrer Zeit im Konzentrationslager Theresienstadt

Liesel Binzer ist 83 Jahre alt. Was in ihrer Kindheit geschah, kann sie bis heute nicht vergessen. Binzer erlebte die Gräueltaten der Nationalsozialisten am eigenen Leib. Die Holocaust-Überlebende ließ Neuntklässler der Calwer Realschule an ihren Erinnerungen teilhaben.

Calw. Knapp 80 Schüler der Realschule hatten sich im Forum am Schießberg versammelt und warteten gespannt auf den Besuch von Liesel Binzer. Die 83-Jährige war eigens aus Offenbach bei Frankfurt angereist, um den Neuntklässlern von ihrem bewegten Leben zu berichten. Sie und ihre Eltern verbrachten wegen ihres jüdischen Glaubens zur Zeit des Nationalsozialismus mehrere Jahre im Konzentrationslager Theresienstadt (rund 60 Kilometer nordöstlich von Prag). Doch sie überlebten.

Nicht einmal sechs Jahre alt war Binzer, als sie mit ihren Eltern ins KZ Theresienstadt gebracht wurde. Früher hatten sie gemeinsam in einer Wohnung in Münster gelebt. Nach der Reichspogromnacht 1938 aber mussten sie ausziehen. Zunächst in ein sogenanntes Judenhaus, wo sie auf engstem Raum mit rund 90 anderen Familien zusammenlebten, geprägt von Verboten.

1942 dann musste die dreiköpfige Familie, "ganz plötzlich", wie sich Binzer erinnert, ins KZ Theresienstadt. Natürlich war dem damals noch kleinen Mädchen nicht klar, was das bedeutete. Doch kaum dort angekommen, wurde sie von ihren Eltern getrennt. Binzer kam in eine Art Kinderheim innerhalb des KZs, ihre Mutter musste hart arbeiten. Der Vater, der im Ersten Weltkrieg beide Beine verloren hatte, wurde verschont. Warum, das kann sich Binzer bis heute nicht erklären. "Eigentlich wurden Behinderte immer zuerst umgebracht." Noch ein kleines Wunder: die kleine Liesel wurde nach langem Betteln der Mutter von der Deportationsliste gestrichen. Eine Deportation, zum Beispiel ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, wäre ihr Ende gewesen.

Häufig für Propagandazwecke genutzt

Binzer erkrankte an Masern. Alleine harrte sie auf der Krankenstation aus. "Und wartete, dass die Natur mich heilt", wie sie erzählt. Sie überlebte – wenn auch mit einer Schwerhörigkeit, die ihr bis heute Probleme bereitet.

Das KZ Theresienstadt wurde von den Nationalsozialisten häufig für Propagandazwecke genutzt. "Es wurde extra hergerichtet um zu zeigen, dass es den Juden hier gut geht", erinnert sich Binzer. Alles Lüge. Etwa 33 000 Menschen starben dort, fast 90 000 wurden von Theresienstadt in Vernichtungslager deportiert. Insgesamt fast sechs Millionen Juden wurden während der Zeit des Nazi-Regimes getötet. Darunter auch Kinder, "die noch gar nicht gelebt haben. Das tut mir heute noch weh", sagt die Überlebende. Vonseiten der Betreuer habe es immer geheißen, sie seien "dort, wo es ihnen besser geht", erzählt Binzer.

Wie viele Menschen wirklich durch das Naziregime zu Tode gekommen sind, kam erst nach der Befreiung durch die Rote Armee 1945 ans Licht. "Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag", sagt Binzer. Am 8. Mai hörte sie plötzlich Geschrei, dann sah sie die Panzer. Die Soldaten verteilten Schokolade an die Kinder. Doch es vergingen noch mehrere Monate, bis die verbliebenen Häftlinge – darunter auch die Eltern von Binzer – das Lager verlassen konnten. "Es ist ein Wunder, dass wir überlebt haben", sagt sie heute. Nicht alle in ihrer Familie hatten so viel Glück. Drei Viertel der jüdischen Familie ist umgekommen. Von der Großfamilie blieb kaum jemand übrig. "Das ist bis heute ein großer Verlust." Sie seien gut integriert gewesen – "ihr einziges ›Verbrechen‹ war es, Juden zu sein", bedauert Binzer.

Trotz des schweren Schicksals baute sich die heute 83-Jährige ein Leben auf. Sie zog aufs Land in der Nähe von Münster, machte Abitur und arbeitete für das Finanzamt. Binzer heiratete und bekam drei Kinder. Ihre Eltern seien sehr glücklich über ihre Enkel gewesen, erzählt sie. "Doch sie waren Zeit ihres Lebens traumatisiert."

Erst vergangenes Jahr wurde Binzer selbst zum siebten Mal Großmutter. Sie hege keinen Groll auf die jüngere Generation, antwortet sie einem Schüler auf dessen Frage. "Aber vergessen kann man es nicht." Dass Nazis "wieder am Kommen" seien, bedrücke sie sehr. "Wenn ich nur einen von euch davon abhalten kann, habe ich mein Werk getan", schloss sie.

Weil die Holocaust-Überlebenden mittlerweile allesamt in sehr fortgeschrittenem Alter sind, sei es die letzte Phase, "in denen sie unter uns sind", fügte Marina Müller von "Zeugen der Zeitzeugen", einer Initiative zum Gedenken an Holocaust-Überlebende hinzu. Umso mehr müsse man deren Anwesenheit schätzen. Was die Schüler auch taten und ihr Interesse durch viele Fragen kundtaten. Müller: "Es liegt an der jungen Generation, dieses Erbe weiterzutragen."