Die Calwer Kantorei und Kammersinfonie spielten in der Stadtkirche. Foto: Stöß Foto: Schwarzwälder Bote

Kultur: Kantorei und Kammersinfonie geben denkwürdiges Konzert in Stadtkirche / Blick in die Vergangenheit

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

Der 9. November – ein Datum mit vielen Bedeutungen. Die Calwer Kantorei und Kammersinfonie würdigten diesen besonderen Jahrestag in der Stadtkirche mit einem bewundernswerten Konzert.

Calw. Kreisarchivar Martin Frieß blickte auf die Pogromnacht vor exakt 80 Jahren zurück. Er fokussierte seinen Blick auf die Stadt Calw zu jener Zeit. Dekan Erich Hartmann nahm auch die Kirchen in die Schuld, die "in ihrer Mehrheit schweigend und mutlos zusahen". Das Publikum erhob sich, um seinem Aufruf zur Gedenkminute zu folgen.

Mehrere Ereignisse

Auf diesen 9. November fallen mehrere Ereignisse, die für die deutsche Geschichte als politische Wendepunkte gelten, machte Bezirkskantor Martin W. Hagner in seinem Einführungswort deutlich. Hiernach, so Hagner, "erscheint mir dieser 9. November als ein Tag, der ein ›in sich gehen‹ geradezu erfordert". Denn, so der Bezirkskantor weiter, "lassen sich die Daten letztlich alle mit dem Streben nach Freiheit und Gerechtigkeit verbinden". Ein Positivum ragt aus einer negativ besetzten Liste heraus: Der gewaltfrei erzwungene Fall der Mauer am 9. November 1989.

Frieß beleuchtete die Geschichte der Stadt Calw zur Nazizeit und die Schicksale einiger Calwer Bürger. Wie jenes von Otto und Sedy Michelson, die in Auschwitz umkamen. Dort wurden auch Helmar Spier und Rosa Kreuzberger ermordet. Exemplarisch stehen die Namen für das Schreckliche, was den Menschen geschah. Bis dahin waren sie immer angesehene Mitbürger und Nachbarn in der Mitte der Gesellschaft gewesen. Plötzlich wurden sie wegen ihres (jüdischen) Glaubens entrechtet, enteignet, gedemütigt und ermordet.

Eine Ausstellung auf fünf gut lesbaren, interessanten Schautafeln kann in den kommenden Tagen in der Stadtkirche besichtigt werden. Dort sind aufschreckende Zusammenhänge der Stadt Calw mit dem Konzentrationslager Natzweiler/Elsass zu erkennen. In dieses "Calwer Außenkommando" (ehemaliges Bauknechtgelände) wurden 199 jüdische Frauen, die jüngsten waren 13 Jahre alt, deportiert. Die Zwangsarbeiterinnen hatten dort Unmenschliches zu ertragen.

Der Stuttgarter Künstler Wolfram Isele schuf zur Erinnerung an die jüdischen Häftlingsfrauen ein Mahnmal. Eine Kopie kann ebenfalls in der Kirche besichtigt werden. Für Frieß ist es ein "wichtiges Anliegen", dass dieses geschichtsträchtige Relief schnellstmöglich einen würdigen Platz in der Stadt findet. Denn: Im Moment ist es auf dem Calwer Bauhof zwischengelagert.

Mit dem Wissen auf die bedrückenden Geschehnisse bekam der Konzertabend die ihm angemessene bedeutungsvolle Note. Musik und Geschichte korrespondierten so miteinander.

Aus der "Messe in Zeiten der Bedrängnis" (Joseph Haydn) erklangen nachdenkliche, auch düstere Momente; zum Ende jubelnde Trompetenfanfaren. Trotz der bedrückenden Untertöne war es Genuss, den brillanten und stimmgewaltigen Solisten Philipp Niederberger (Bass), Hannes Wagner (Tenor), Petra Koschatzki (Alt), Chisa Tanigaki (Sopran) zuzuhören.

Zudem war es für die Zuhörenden ein Erlebnis, der Calwer Kantorei sowie der Kammersinfonie unter Hagners Dirigat zu folgen. Wird doch diese hohe Qualität in Gesang und Orchesterklang von Frauen und Männer geschaffen, die Musik "nur" als private Leidenschaft betreiben. Diese standen auf hörbarer Augenhöhe mit den vier Solisten.

Bekannter Widerspruch

Die Messe, bestehend aus Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Benedictus und Agnus Dei, endete befreiend mit dem "Dona nobis pacem".

Johann Herrmann Scheins Motetten der Sammlung "Israels Brünnlein" wird als eine kompositorische Gipfelleistung der deutschen Musikgeschichte beschrieben. Diese ließ den bekannt wirkenden Widerspruch erkennen, sich von Gott verlassen zu fühlen aber von Gott nicht lassen zu können. Bei Brahms Motette klagte Hiob "Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen?". Hier ließ die vom Chor gut eingestimmte chromatische Fuge ebenso aufhorchen wie das immer wieder wuchtig ausgestoßene "Warum". Hagner verzichtete dann wegen des bedeutungsschwangeren Datums bewusst auf den Schlusschoral "Mit Fried’ und Freud’ fahr ich dahin". In klagender Weise ließ Felix Mendelssohn Bartholdy im Wechsel Sopran, Chor und Orchester den alttestamentarischen 42. Psalm unter Zuhilfenahme Luthers Übersetzung rufen. "Wie der Hirsch schreit nach frischen Wasser, so schreit meine Seele, Gott zu Dir". Der posthum von den Nazis gedemütigte Christ (mit jüdischen Wurzeln) setzte hier seine eigene Dramaturgie: Am Ende wurde es fulminant. "Preis sei dem Herrn, dem Gott Israels, von nun an bis in Ewigkeit." Mit dem Einsatz von Fanfaren und Pauken, sämtlicher Instrumente und aller Stimmen wurde die Sehnsucht nach dem scheinbar fernen Gott in den hellsten und schönsten Klangfarben ausgerufen.