Im Landgericht Tübingen fand der erste Prozess unter Corona-Einschränkungen statt. Foto: Bernklau

51-Jähriger geht mit Messer auf Mutter los. "Im Zustand der Schuldunfähigkeit".

Tübingen/Calw - In einem ersten Prozess unter Corona-Einschränkungen hat das Landgericht Tübingen über einen 51-jährigen Mann aus Calw zu urteilen, dem der Staatsanwalt versuchten Mord an seiner 83-jährigen Mutter vorwirft.

Er trug Handschuhe. Zwei Glasscheiben schirmten den Vorsitzenden Ulrich Polachowski von seinen beisitzenden Richtern ab. Die beiden Schöffen saßen in der ersten Reihe des Zuschauerraums. Der Beschuldigte hatte an der Bank vor seiner Verteidigerin Platz genommen, die Gutachter ebenfalls in getrennten Reihen – Recht in Zeiten von Corona.

Mordversuch mit einem Messer

Staatsanwalt Simon Müller wirft dem Mann Mordversuch mit einem Messer an seiner 83-jährigen Mutter vor. An einem Mittwochabend Anfang vergangenen September soll er ihr unvermittelt einen "sieben Zentimeter langen und zwei Zentimeter tiefen Schnitt" in den Hals zugefügt haben, als sie auf dem Sofa im Wohnzimmer ihres Hauses in einem Calwer Teilort saß. Der Sohn sei dabei aber "im Zustand der Schuldunfähigkeit" gewesen, sagte der Staatsanwalt.

Die Verletzungen der alten Dame erwiesen sich als nicht lebensgefährlich. Die Wunde wurde im Calwer Krankenhaus ambulant genäht und war schon "recht gut verheilt", als der Gutachter Heinz-Dieter Wehner die verwitwete Seniorin rund zwei Wochen nach der Tat untersuchte. "Eher oberflächlich" sei die Verletzung gewesen. "Ich bezweifle zwei Zentimeter Tiefe", sagte der Tübinger Professor. Jedenfalls habe "keine konkrete Lebensgefahr" bestanden, da "nichts Relevantes verletzt" gewesen sei.

Der nach seiner Tat in die Psychiatrische Klinik in Zwiefalten eingewiesene Sohn hatte nach seinem Hauptschulabschluss eine Lehre als Dreher gemacht und dann seinen Zivildienst in einer Klinik in Schömberg abgeleistet. "Weg von daheim" habe er schon früh gewollt, sagte er in der Schilderung seines Lebens, die zuweilen in der Zuordnung der Zeiten unklar und sprunghaft war.

Den Regisseur Wim Wenders gekannt

Mit seiner damaligen Freundin zog er demnach noch in den Achtzigern ins wilde West-Berlin, verdingte sich in der Pflege und habe "engen Kontakt zu Künstlerkreisen" gehabt, unter anderem "den Regisseur Wim Wenders gut gekannt". Nach zwei Jahren begann er in Konstanz am Bodensee eine dreijährige Ausbildung zum Ergotherapeuten. Nachdem er zweimal durch die Prüfung gefallen war, kehrte er ins Elternhaus heim, suchte Abstand bei einer Sahara-Durchquerung und Halt in einem Meditations-Kloster, blieb aber schließlich fortan in der Heimat.

"Einen Burnout" habe er damals gehabt, sagte er. Jedenfalls begann eine Lebensgeschichte, die von beständig wiederkehrenden Psychiatrie-Aufenthalten, wechselnden Wohnungen, Arbeit in gemeinnützigen Werkstätten und einer dauerhaften Medikation bestimmt war. "Bissle ein psychiatrischer Werdegang" nannte der 51-Jährige das selber.

Mit bestellten Betreuern kam er nicht immer aus – einen nannte er "boshaft" – und die Medikamente (außer Depot-Spritzen) nahm er offenbar nicht immer ganz gewissenhaft.

So hatte es jedenfalls die Mutter gegenüber einem Ermittlungsrichter geschildert. Der Jurist wurde als Zeuge vernommen, weil sie vorab von ihrem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch gemacht hatte. Vor der Tat habe er "einen stieren Blick bekommen", wie öfter "in solchen Zuständen". Dass man schon in den Tagen vorher viel gestritten habe, auch um ihre Betreuung, räumte hingegen der Sohn ein.

Eigentlich habe er die Mutter drängen wollen, ihn abholen und ins Hirsauer Zentrum für Psychiatrie bringen zu zu lassen – wie jahrelang zuvor schon viele Male. Verteidigerin Safak Ott schloss sich dieser Deutung an. Mit dem Messerangriff habe er sie "keinesfalls töten wollen", beteuerte er, sondern die Notwendigkeit einer Klinikeinweisung zu bekräftigen versucht.

In den Tagen zuvor waren zwei Versuche der Mutter dazu misslungen. Beim Roten Kreuz hatte man einen Transport des Sohnes ins ZfP mit der Begründung abgelehnt, man sei "kein Taxi". Nach einem späteren Notruf habe die ins Haus gekommene Ärztin eine Einweisung für nicht geboten befunden und dem Sohn Beruhigungsmittel verordnet.

Das Gericht wird bei dem 51-Jährigen über Art und Dauer der Unterbringung in einer geschlossenen Psychiatrie zu entscheiden haben. Es muss aber auch darüber befinden, ob der Angriff als Mordversuch zu werten war und der Mann eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Die Mutter hatte gegenüber dem Ermittlungsrichter gesagt, der Sohn sei "nie zuvor aggressiv geworden". Er selber beteuerte: "Ich bin keine Zeitbombe."