Die Kriegskinder kämpften 1945 täglich ums Überleben. Foto: US Army

Kasseler Psychiater Hartmut Radebold: Für diese Generation findet Weltkrieg nie ein Ende.

Calw/Kassel - Es war ein banaler Auffahrunfall. Die Fahrerin trug ein Schleudertrauma davon. Selbst für eine Frau von Mitte 70 keine allzu schwere Verletzung.

Doch unmittelbar darauf geschah etwas ganz anderes. Sie waren wieder da, die Bilder vom Krieg. Von dem Angriff britischer Flugzeuge, die einen Zug am Nord-Ostsee-Kanal mit Maschinengewehr-Salven beschossen hatten. Menschen starben, Blut floss, Schreie aus Todesangst. Und mitten drin das damals knapp fünfjährige Mädchen mit Mutter und Schwester.

Rund 70 Jahre später hat ein alltäglicher Autounfall ausgereicht, um die grauenhaften Kriegserlebnisse wieder wach werden zu lassen. Von Trauma-Reaktivierung spricht der Kasseler Psychiater und Psychoanalytiker Hartmut Radebold. Bei ihm hatte diese Frau wegen ihrer Angstzustände Hilfe gesucht.

Ein Einzelfall? Keineswegs. Der Wissenschaftler beschäftigt sich mit der Generation der Kriegskinder seit rund 15 Jahren. Radebold, selbst Jahrgang 1935, hat ein solches Schicksal am eigenen Leib erfahren. Nach einer schweren Herzoperation "ging es mir richtig schlecht. Ich wurde von Weinkrämpfen geschüttelt", erzählt er. Auch bei ihm wurden schlimme Erinnerungen wach. An die Flucht aus Westpreußen, an Bombennächte in Berlin, an den toten Vater und den in die Sowjetunion verschleppten Bruder. Radebolds Stimme gerät ins Stocken, wenn er darüber spricht.

Als der Psychiater und Psychoanalytiker ab 2002 begann, Vorträge zu diesem Thema zu halten, ist er in hohem Maße angefeindet worden. Als Deutscher könne man darüber nicht forschen, hieß es. Es fällt auf, dass von der Wissenschaft auch erst danach Themen wie Flucht, Vertreibung, die Bombardierung der Städte oder Vergewaltigungen durch Besatzungssoldaten thematisiert worden sind. Sehr spät begann man sich damit zu beschäftigen, dass auch Deutsche unter dem Krieg gelitten haben.

In die rechte Ecke möchte sich Radebold nicht gestellt sehen. Und das nicht nur, weil die Kindergeneration, die Mitte der 30er-Jahre geboren worden ist, gar nicht zu den Tätern des Nazi-Regimes gehören kann; sondern, weil es eine unerträgliche Ambivalenz zwischen Tätern und Leidtragenden gibt, wie Radebold in Anlehnung an den jüdisch-schweizerischen Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik sagt.
In deutschen Altenheimen, so drückt es die Autorin Katja Thimm drastisch aus, tobt der Zweite Weltkrieg

Auch von politischer Seite gab es so gut wie keine Unterstützung. Einzige Ausnahme war Johannes Rau (SPD), Bundespräsident von 1999 bis 2004. Er wurde hellhörig bei dem Thema, erzählte, wie er als 13-Jähriger verkohlte Leichen geborgen hat. Rau sagte seine Hilfe zu. Ihm war es wesentlich zu verdanken, dass es 2005 in Frankfurt zum ersten internationalen Kriegskinderkongress mit mehr als 700 Teilnehmern gekommen ist.

Warum werden viele aus der Kriegskindergeneration erst jetzt von ihren Traumata gequält? Radebold: "Wir waren froh, dass es vorbei war. Wir haben uns entwickelt und wir haben funktioniert." Und viele Funktionen verlieren diese Menschen im Alter. Nicht nur im Beruf und zunehmend in der Familie, sondern vielfach auch körperlich. Das spüren insbesondere diejenigen, die auf Pflege angewiesen sind. Auch dies trägt zur Trauma-Reaktivierung bei. In deutschen Altenheimen, so drückt es die Autorin Katja Thimm drastisch aus, tobt der Zweite Weltkrieg.

Für Radebold hat das die Konsequenz, dass sich alle, die mit alten Menschen zu tun haben, mit diesem Thema beschäftigen sollten. Ob das nun Ärzte, Altenpfleger, Theologen oder Mitarbeiter in Hospizen sind. Denn auf diese Kriegstraumata lassen sich viele Panikattacken, Angstzustände und Depressionen zurückführen. Rund 60 Prozent dieser Generation, so schätzt Radebold, sind schwer traumatisiert oder beschädigt. Und das sollte aus seiner Sicht auch Folgen für den Umgang mit Menschen haben, die heute aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan aus den kriegerischen Auseinandersetzungen in ihren Heimatländern nach Deutschland fliehen. Radebold war auf Einladung von Reinhard Kafka, dem Geschäftsführer der Evangelischen Erwachsenenbildung nördlicher Schwarzwald, nach Calw gekommen.

Dass der Platz im Gemeindehaus im Stadtteil Heumaden nicht ausreichte, ist ein Hinweis darauf, dass es sich keineswegs um ein Außenseiterthema handelt. Laufend mussten weitere Stühle herbeigeschafft werden, am Ende drängten sich mehr als 100 Menschen in dem kleinen Saal.

Erstmals, so fiel dem Psychoanalytiker beim Blick ins Auditorium auf, standen die Fragen der Enkel im Vordergrund, Menschen also, die zwischen 45 und 60 Jahre alt sind. Sie treibt das Schicksal ihrer Eltern um, und sie wollen wissen, warum viele von ihnen so lange geschwiegen haben und es noch immer tun. Immer mehr Familien forschen bei Einrichtungen wie Wehrmachtsauskunftsstelle, Kriegsgräberfürsorge, Militärhistorischem Institut Freiburg oder der Gedenkstätte Dresden nach.

"Die Kriegskinder machen sich auf den Weg", so umschreibt Radebold diese Entwicklung. Das zeigt: Auch 70 Jahre nach dem Waffenstillstand scheint der Zweite Weltkrieg noch lange nicht zu Ende zu sein.