Soziales: Erlacher Höhe appelliert an Bundesregierung, Sozialbauten zu fördern / Immer mehr Frauen betroffen
Von der Arbeit heimkommen, etwas kochen, sich gemütlich auf die Couch setzen – das ist für viele Menschen selbstverständlich. Nicht so für die rund 650 000 Wohnungslosen in Deutschland. Einen immer größeren Anteil daran bilden Frauen. Eine Entwicklung, die schleunigst gestoppt werden muss, betonen Vertreter der Erlacher Höhe.
Calw. S. Kubsch, ihren vollen Namen möchte sie gegenüber der Zeitung nicht nennen, hat eine harte Zeit voller Tiefschläge hinter sich. Noch immer leidet die 50-Jährige unter den Geschehnissen, noch immer ist sie wohnungslos. "Ich hätte nie gedacht, dass mir sowas mal passiert", gibt Kubsch zu. Doch von vorne.
2011 verstarb der Sohn von Kubsch kurz darauf zebrach auch ihre langjährige Beziehung. "Dann bin ich für fünf Jahre nach Spanien ausgewandert", erinnert sie sich. Die psychischen Probleme, die sie seit den Ereignissen Jahre zuvor plagen, gehen aber nicht weg. "Ich bin immer wieder in ein Loch gefallen." Zurück in Deutschland lebte Kubsch in einer kleinen Wohnung in Stuttgart, hatte einen Ein-Euro-Job. Dann unterlief ihr ein folgenschwerer Fehler: Die heute 50-Jährige meldete sich auf eine Stellenanzeige, die gutes Geld versprach. Sie ging einer "Drücker-Kolonne" auf den Leim – einer vermeintlichen Tierschutzorganisation, bei der die Mitglieder Spenden sammeln und Mitglieder akquirieren müssen. Ist ihnen das nicht so gelungen, wie die Organisation es gerne gehabt hätte, erwarteten die Mitarbeiter Strafen, bis hin zu körperlicher Gewalt. Gewohnt hat Kubsch zu dieser Zeit in einem kleinen Kellerraum in Neuweiler. Der traurige Höhepunkt folgte im vergangenen Jahr. Die 50-Jährige kam nicht mehr mit ihrer Situation klar. Sie versuchte sich das Leben zu nehmen. Dreimal musste sie wiederbelebt werden. "Heute bin ich Gott dankbar, dass ich noch lebe", sagt Kubsch, während ihr Tränen in die Augen treten.
Häusliche Gewalt
Heute ist sie auf dem Weg der Besserung. Sie lebt in einem Mietverhältnis in der Erlacher Höhe, arbeitet dort in der Wäscherei, ist mithilfe des Jobcenters auf Arbeitssuche. Und auf der Suche nach einer Wohnung.
Doch das gestaltet sich schwerer als gedacht. Es hagelt eine Absage nach der anderen. Und auch die steigenden Immobilienpreise sind ein Hindernis. Auch Menschen aus gutbürgerlichen Verhältnissen müssen deshalb immer öfter Angst um ihre Wohnungen haben, meint Sebastian Kirsch, Teamleiter der Wohnungslosenhilfe bei der Erlacher Höhe. Da Frauen häufiger Geringverdiener sind als Männer, trifft sie immer öfter das Schicksal Wohnungslosigkeit. Seit 2005 haben sich die Zahlen der betreuten Frauen in der Erlacher Höhe mehr als verdreifacht, in Deutschland insgesamt galten 2017 68 000 Frauen als wohnungslos. Als Gründe für den Anstieg nennt Wolfgang Sartorius, geschäftsführender Vorstand der Erlacher Höhe, dass Frauen häufig in Teilzeit arbeiten oder unter häuslicher Gewalt leiden. Zudem kommt es oft zu Gewalt in der Herkunftsfamilie. "Und ein Leben auf der Straße bedeutet oft eine Fortsetzung der Gewalt", gibt Sartorius zu bedenken.
Viele Frauen sehen einen Weg aus ihrer Not darin, bei einem Mann "unterzuschlüpfen", um der Wohnungslosigkeit zu entgehen. "Das ist eine besondere Ausprägung", meint er. Vor allem weil man diesen Frauen nur schwer helfen könne.
Und dann gibt es da noch jene Frauen, die Kinder haben. Bei ihnen kommt die Angst hinzu, ihren Nachwuchs an das Jugendamt zu verlieren, wenn es von der Wohungslosigkeit erfährt. "Es gibt viel zu wenig Hilfsangebote für wohnungslose Frauen mit Kindern", meint Sartorius.
Was ihn übergangslos zur nächsten Problematik führt, die er in Deutschland sieht: "Der soziale Wohnungsbau wurde sträflich vernachlässigt in den vergangenen Jahren." Der geschäftsführende Vorstand sieht eine Wohnung als ein Menschenrecht. "Und das kann man hier nur unzureichend verwirklichen." Sartorius sieht es als Aufgabe der Bundesregierung, in diesem Bereich zu handeln. Denn: "Eine Wohnung ist nicht alles, aber ohne eine Wohnung ist alles nichts."
Ebenso düster schätzt Andreas Reichstein, Abteilungsleiter bei der Erlacher Höhe, die Situation im Landkreis Calw ein. "Der soziale Wohnungsmarkt liegt am Boden, er hat versagt", findet er drastische Worte. Bei den Investitionen sämtlicher Wohnungsbaugenossenschaften gehe es lediglich um die Renditen. "Die erreicht man eben nicht mit Sozialbauten." Reichstein spricht sich für eine Förderung des sozialen Wohnungsbaus aus – und zwar nicht mit "dem alten Hut" der Zinsförderung, sondern durch einen Zuschuss pro Quadratmeter Wohnfläche. "Ich hoffe wirklich, dass sich da was bewegt", sagt er.
Die aktuelle Situation macht auch der Erlacher Höhe selbst zu schaffen. Beim Thema Wohnraum sei man beinahe hilflos, sagt Kirsch achselzuckend. Es gebe nur noch wenige Kontakte, die man für eine kurzfristige Unterkunft aktivieren könne, das Frauenhaus ist überlastet und zunehmend komplexe Familienstrukturen stellen die Mitarbeiter vor besondere Herausforderungen. Manchmal ist dann die einzige Lösung die Obdachlosenunterkunft. So sehr Kirsch das auch bedauert.
Deshalb ist oberstes Ziel, dass die Menschen gar nicht erst in die Wohnungslosigkeit hineinrutschen. "Wenn sie mal weg ist, wird es schwer, wieder eine zu finden", sagt er. Kubsch gibt die Hoffnung aber nicht auf. "Vielleicht finde ich ja doch noch eine."