Gerbersauer Lesesommer: Anna Greiter und Benedikt Schregl beschreiben Vagabunden-Sehnsüchte Hesses

Calw. Jens Renner, Filialleiter der Sparkasse in Calw, beginnt den Hermann-Hesse-Abend auf humorige Art. "Es gibt eine gute Nachricht", begrüßt er seine Gäste in der Schalterhalle, "die Fußball- WM ist vorbei." Endlich könne man sich wieder der Kunst und der Literatur widmen. Herbert Schnierle-Lutz, sozusagen der Erfinder und Kopf des "Gerbersauer Lesesommers", nimmt in seiner kurzen Einleitung den Ball geschickt auf. "Wir hoffen doch, dass wir ein bisschen unterhaltsamer als die WM sein können." Das ist doch schon mal ein guter Anfang.

Auf dem Programm stehen "Vagabunden-Sehnsüchte", die Schalterhalle ist voll besetzt, für musikalische Untermalung sorgen Andreas Hiller an der zehnsaitigen Gitarre und Johannes Hustedt an der Querflöte. Die "Vorleser" Anna Greiter und Benedikt Schregl sind beide keine "Newcomer" mehr in Calw und bei Hermann Hesse.

Der Abend kann beginnen. "Der Wanderer hat das Beste und Zarteste von allen Genüssen", heißt es da gleich im Text, "weil er neben dem Schmecken auch noch das Wissen von der Flüchtigkeit aller Freude hat." Hesse-Fans wissen, dass der Großdichter aus Calw zeitlebens eine Schwäche für die Ferne, für das Wandern und Vagabundieren, für das Flüchten und Abhauen hatte.

Wunderbar schnörkellos

Besonders als junger Ehemann, als junger Vater und junger Dichter, als er mit der Familie in Gaienhofen am Bodensee lebte, wurde ihm das Sesshafte, das Häusliche schnell zur Qual. Dem Künstler stand der Sinn nach Freiheit. "Wenn es Abend wird" heißt denn eine Erzählung aus der Zeit in Gaienhofen, die das ganze Dilemma des künstlerischen Egos beschreibt: Da sitzt er mit einem Krug Wein am Tisch, den Blick auf die Dämmerung am See, im Nebenzimmer spielt die Ehefrau leise und verhalten auf dem Klavier. Ist es Schumann, ist es Chopin? "Alles auf der Grenze, alles ungewiss, nachtwandlerisch taumelnd", beschreibt er die eigenartige, bizarre Stimmung – echte, unnachahmliche Hesse-Sätze sind das, die immer wieder betören. Und dann, wie eine dunkle Wolke kommt es über ihn: "Plötzlich steigt mir wie eine Seifenblase die Frage auf: Bist Du eigentlich glücklich?"

Das sind diese Hesse-Fragen, kaum ein anderer Autor wagt es heute noch, derartige existenzielle Kreuzfragen so direkt, so ungeschminkt, so vermeintlich "naiv" zu stellen. Natürlich gibt’s im Text keine Antwort. Was bleibt, ist eine Sehnsucht.

Gelesen werden die Texte ganz wunderbar schnörkellos von Greiter und Schregle, ein perfekt eingespieltes Vorlese-Paar, das schon mehrfach Hesse in der Schalterhalle vortrug – unaufgeregt, ohne Pathos und Attitüde. Selbst eine technische Panne mit dem Mikrofon konnte die beiden nicht aus der Ruhe bringen. Am Ende brauchte es gar keine Technik, die eigene Stimme reichte aus. Und auch die beiden Musiker passen sich wunderbar an, es gibt Tänze von Franz Schubert, eine Romanze von Willy Burkhard und sogar "Scarborough Fair" – mit Gitarre und Querflöte klingt der einstige Ohrwurm ganz anders als vor 40 Jahren.

Allein das Wort Vagabund ist heute ja ziemlich aus der Zeit gefallen, klingt nach Wanderschaft junger Handwerker aus längst vergangenen Jahrhunderten. Mit dem modernen Reisen, dem Urlaub und der Touristik von heute hat das Vagabunden-Sein so viel zu tun wie eine klassische Oper mit einem Video-Clip – doch hinter allem steht die Sehnsucht nach Ferne. Und die beschreibt Hesse so eindringlich wie kaum ein anderer. Am Ende gab es in der Schalterhalle von Calw wieder einmal langen, warmen Beifall.