Etwa 30 Videoberichte und Fachbeiträge sind auf www.papierblatt.de zu finden.Fotos: Roller/Selent-Witowski Foto: Schwarzwälder Bote

Bildung: Digitales Archiv "Papierblatt" hält Berichte von Holocaust-Zeitzeugen fest / Fundgrube für Unterricht und Forschung

Wildberg. Mordechai Papirblat hat überlebt. Geboren 1923 als Jude in Polen, ist er zu Kriegsbeginn in Warschau und muss dort ins Ghetto, bis er nach Auschwitz deportiert wird. Dort erträgt er 900 Tage lang Krankheit, Hunger, Kälte, Erniedrigung und Gewalt. Kurz vor Kriegsende gelingt ihm die Flucht von einem sogenannten Todesmarsch. 1946 führt Papirblats Weg ins britische Mandatsgebiet Palästina. Er gründet eine Familie und lebt bis heute in Israel.

Der inzwischen 97-Jährige ist Namensgeber für das Projekt "Papierblatt", ein digitales Archiv, das Berichte von Zeitzeugen des Holocaust festhält. Eine wertvolle Fundgrube, denn Handreichungen zum Thema Nationalsozialismus und Antisemitismus für den Unterricht an Schulen sowie Universitäten sind bislang eher rar.

Eine Initiative aus dem Nordschwarzwald beginnt 2016 mit dem Projekt: Jedes Jahr, am Holocaust-Gedenktag (27. Januar), lädt das Werk "Zedakah", das sich um die Überlebenden kümmert, einen von ihnen ein, um von dessen Schicksal zu berichten. Aus gesundheitlichen Gründen muss der Referent diesmal absagen. Dabei wird klar: Die Zeitzeugen verstummen nach und nach durch den wachsenden zeitlichen Abstand zum damaligen Geschehen für immer, und die persönliche Begegnung mit ihnen wird schwieriger.

Neben dem Verein "Zedakah" als Kontaktgeber zu den Überlebenden stehen hinter dem Projekt das gemeinnützige Medienunternehmen Morija aus Wildberg (Kreis Calw), das "Papierblatt" medientechnisch realisiert, sowie der evangelische Schuldekan der Kirchenbezirke Calw-Nagold und Neuenbürg, Thorsten Trautwein. Er ist Ansprechpartner für didaktische und bildungspolitische Aspekte der digitalen Plattform. Die Evangelische Landeskirche in Württemberg, die Landesakademie für Fortbildung und Personalentwicklung an Schulen Bad Wildbad sowie Einzelakteure und weitere Initiativen haben sich inzwischen für das Projekt vernetzt.

Amira Gezow berichtet, wie ihre Familie nach Frankreich deportiert wird

Zum Start des neuen Schuljahrs ist es gelungen, die Beiträge des Digitalarchivs noch übersichtlicher zu gestalten, außerdem gibt es eine Vernetzung mit crossmedialen Elementen. Ein variabler Umgang mit dem Material ist gewährleistet. "Gebe ich zum Beispiel das Wort ›Flucht‹ ein, können Themen personenübergreifend erschlossen werden", erklärt Angelika Holzäpfel, die sich der Verschlagwortung auf der Homepage und der Transkription der Videobeiträge angenommen hat. Auch zu Begriffen wie "Ghetto" oder "Auschwitz" werden alle erfassten Filmsequenzen angezeigt, in denen die Zeitzeugen sich dazu geäußert haben.

Mordechai Papirblat und mehr als weitere 20 Holocaust-Überlebende kommen in den Einzelbeiträgen ausführlich zu Wort. "Wir hatten viele Stunden Filmmaterial für einen 20-minütigen Beitrag und haben uns gefragt, was wir mit dem Rest machen sollen. So hat alles angefangen", berichtet Timo Roller, Geschäftsführer von Morija, der für "Zedakah" Interviews mit den Überlebenden in Israel geführt hat.

Die digitalen Videoberichte vermitteln weit mehr als Texte. Die Lerninhalte der Plattform bekommen ein Gesicht, der Nutzer der Homepage bekommt durch Mimik, Gestik und Stimme des Zeitzeugen einen ganzheitlichen Eindruck, fast so, als säße man sich gegenüber.

Amira Gezow beispielsweise berichtet, wie ihre Familie nach Frankreich deportiert wird, wie ihr Leben in den Lagern Gurs und Rivesaltes abläuft und wie sie 1942 mithilfe der Schwestern des Deutschen Roten Kreuzes in die Schweiz gelangt, während beide Eltern in Auschwitz den Tod finden.

Für die Überlebenden ist das Erzählen vor der Kamera ein Akt der Bewältigung

Der Zeitzeuge Ben Lesser ist elf Jahre alt, als die Deutschen in Krakau einmarschieren. Er muss die Gräueltaten der deutschen Soldaten mit ansehen. In der Videoaufnahme berichtet er, wie er es später gemeinsam mit einem Teil der Familie mit viel Klugheit und Geschick schafft, sich und die Angehörigen vor der todbringenden Gaskammer zu retten.

Für die Überlebenden ist das Erzählen vor der Kamera ein Akt der Bewältigung und gleichzeitig die Bitte, dass sich derlei Geschehnisse nicht wiederholen dürfen. "Uns war es außerdem wichtig, das Leben der Betroffenen auch nach dem Holocaust zu würdigen. Diese Menschen sind nicht nur Opfer, sondern jeder ist selbst Subjekt seines Lebens", betont der Schuldekan. Der Nutzer der Homepage wiederum lerne nicht nur geschichtliche Fakten, sondern setze sich mit seinen eigenen Gefühlen auseinander. Er werde dazu gebracht, sich zu fragen, welche Konsequenzen man aus dem Gesehenen und Geschehenen für das Leben heute ziehen könne. "Das ist ein Gewinn für beide Seiten", sagt Trautwein.

Der Calwer Schuldekan wird als einer der Hauptreferenten das Projekt beim Kongress "Antisemitismus heute" vom 20. bis 22. September in Schwäbisch Gmünd (Ostalbkreis) vorstellen, nachdem es bereits bei einem Fachtag des Landes Baden-Württemberg in der Stuttgarter Synagoge im vergangenen Herbst mit Innenminister Thomas Strobl (CDU) und dem Antisemitismusbeauftragten des Landes Baden-Württemberg, Michael Blume, großen Anklang gefunden hatte – weil es schlicht, aber äußerst wirkungsvoll auf die Kraft von Fakten und Quellen setzt.

Schule und Studium

Das digitale Archiv "Papierblatt" hält die Berichte von Zeitzeugen des Holocaust fest: auf Deutsch, frei zugänglich im Internet verfügbar und mit Smartphone und Tablet problemlos abrufbar. Unterrichtsentwürfe und eine umfangreiche Suchfunktion, die direkt die entsprechenden Videosequenzen als Ergebnis anbietet, sind wichtige Elemente für die Verwendung in Schule und Studium im Zeitalter der Digitalisierung. Corona

Während der momentan noch grassierenden Corona-Pandemie hat sich die Plattform bereits bewährt. Ein Pfarrer und Studienrat auf der Schwäbischen Alb meldete: "Heute lernt jeder meiner Zehntklässler eine Person aus dem ›Papierblatt‹-Archiv kennen und schreibt eine halbseitige Zusammenfassung seiner Erfahrungen. Im Online-Unterricht der Corona-Krise ist www.papierblatt.de eine tolle Fundgrube".