Auch am Tübinger Landgericht, wo der Prozess gegen die Ausbrecher stattfindet, herrscht Maskenpflicht. Foto: M. Bernklau

Mitarbeiter des Zentrums für Psychiatrie sagen aus. Vier Männer flüchten im April 2019 aus Klinikum.

Tübingen/Calw-Hirsau - Es hat beide schwer mitgenommen – sie mehr als ihn. Bis heute. Im Ausbrecher-Prozess vor dem Tübinger Landgericht sagten gestern die Pfleger am Calwer Zentrum für Psychiatrie aus.

April vorigen Jahres. Die Nachtschicht auf der geschlossenen Entzugsstation am Klinikum Nordschwarzwald begann für die beiden Pflegekräfte wie jede andere: mit der Alkoholkontrolle und Medikamentenausgabe. Um vier im Krisen- und im Abbruchbereich wartende Gefangene hatten sich die beiden 33-Jährigen zu kümmern. Zwei der Ausbrecher müssen sich vor der Großen Strafkammer am Landgericht Tübingen erneut verantworten, nachdem das erste Verfahren gegen das komplette Quartett wegen Corona geplatzt war.

Das erste Verfahren war wegen Corona geplatzt

Zunächst schien die Lage für die beiden Pflegekräfte noch beherrschbar. Nach Aussagen der Frau soll ihr der links von der Küchenseite her gekommene tschetschenische Lastwagenfahrer blitzschnell das Alarmtelefon und den Schlüsselchip vom Hosenbund und aus der Tasche gerissen haben, als sie gerade ein Tablett trug. Er wusste offenbar exakt, wie die Geräte zu behandeln waren, dass kein Alarm ausgelöst wurde. "Meuterei!" soll er mehrfach gerufen haben, was er jetzt bestritt.

Gutes Zureden des Kollegen ("Wir finden eine Lösung"), der schnell von drei anderen Aufrührern umringt war, die auch seine Geräte forderten, nützte bald nichts mehr. Schnell wurde es brenzlig.

Die Stimmung, zunächst noch "eher fast höflich", erinnerte sich die Pflegerin im Zeugenstand, schlug blitzschnell um, wurde "aggressiv und bedrohlich in Mimik und Gestik". Man wolle ihnen nichts antun, soll der Wortführer – er steht in einem anderen Verfahren vor Gericht - gesagt haben, aber es könnte "bald sehr ungemütlich werden", sagten beide Zeugen übereinstimmend.

Als der Tschetschene den Pfleger auch noch körperlich mit dem Ellenbogen gegen dessen Hals anging, ein anderer ihn an den Beinen fasste und umstoßen wollte, gab er seinen Widerstand auf und händigte Handy und Chip aus. "Eher passiv und abseits", so die beiden Zeugen, soll sich der vierte der Ausbrecher verhalten haben, zumindest bis dahin. Später allerdings soll der 37-jährige Badener, im Prozess zweiter Angeklagter neben dem Tschetschenen als eine Art Vorhut die drei Sperrtüren geöffnet haben.

Weil Ausbruch an sich nicht strafbar ist, muss ihm ein Begleitdelikt wie Raub, Freiheitsberaubung oder Nötigung nachgewiesen werden. Deshalb fragte Verteidigerin Katrin Behringer genauestens nach den Detailbeobachtungen. Sie schienen zunächst für ihren Mandanten zu sprechen. Er entschuldigte sich auch bei den beiden Pflegern, von denen vor allem die Frau bis heute so mitgenommen ist, dass sie die Aussage ("Alles kommt wieder hoch") sichtlich mitnahm. Immer noch ist sie in psychologischer Behandlung.

Auch der 33-jährige Tschetschene entschuldigte sich über seine sehr gute Russisch-Dolmetscherin nochmals wortreich, bis ihn die Kammervorsitzende Manuela Haußmann unterbrach. Er will der Pflegerin zwar das Telefon weggerissen, den Schließchip aber dann freiwillig von ihr bekommen und sie sogar mit fürsorglichen Gesten beruhigt haben. Auch bei ihm geht es um das strafrechtliche Gewicht seiner Begleittaten.

Das Quartett flüchtete in den dunklen Wald

Deutlich länger als die mehrfach in Juristensprache erwähnte "Vaterunser-Länge" soll die eigentliche Ausbruchsaktion gedauert haben. Der Wortführer soll den beiden Eingesperrten zu guter Letzt noch den Zugang zu einem Patiententelefon geöffnet haben, von wo aus sie nach insgesamt rund 20 Minuten mithilfe der Karte eines anderen Patienten auf sich aufmerksam machen und Alarm schlagen konnten. Auch habe er versprochen, die ortungsfähigen Handys und die Chips noch auf dem Klinikgelände wegzuwerfen.

Über drei mittels der Chips elektronisch geöffnete Türen, zuletzt den Haupteingang des ZfP ein Stockwerk höher, entkam das Quartett in den nächtlich dunklen Wald und schlug sich talwärts bis nach Hirsau durch. Alle vier versteckten sich bis zum Morgengrauen erfolgreich vor Hundestaffeln und Suchhubschraubern unter einer Brücke. Das jetzt angeklagte Duo konnten die Polizeitrupps dann aber am dortigen Bahnhof, die beiden anderen Ausbrecher Stunden später an der Bahnlinie vor Bad Liebenzell festnehmen.