Ältere Menschen müssen den Euro oft zweimal umdrehen, bevor sie ihn ausgeben. Foto: Archiv Foto: Schwarzwälder Bote

Gesellschaft: Auch wenn die Rente oft nicht ausreicht – eine 74-Jährige lässt sich davon nicht unterkriegen

Schon Mitte des Monats müssen manche am Geldautomaten zittern, Armut hat viele Gesichter. Doch vor allem älteren Menschen reicht die Rente oft nicht aus. Eine 74-Jährige erzählt, wie sie sich davon nicht die Lebensfreude nehmen lässt.

Kreis Calw. "Heute habe ich keine Angst mehr", sagt die Seniorin mit den blonden, kurzen Haaren und dem offenen Lachen. Ihr größter Wunsch? Ein eigenes Haus mit drei bis vier Mitbewohnern, die sich gegenseitig unterstützen, einen Garten anlegen, selbst Gemüse anbauen. "Weil das Alleinsein ist nicht mein Ding", sagt die 74-Jährige.

Sie sitzt in ihrer kleinen Zweizimmerwohnung im Kreis Calw und blickt aus dem Fenster. So ganz zufrieden ist sie mit ihrer Wohnung nicht. "Aber immerhin der Ausblick ist schön." Die 74-Jährige ist vor einigen Jahren in den Schwarzwald gezogen. Sie treibt regelmäßig Sport, geht tanzen. "Ich habe immer darauf geachtet, dass ich meine Gesundheit erhalte, weil das meine größte Sicherheit ist", sagt sie.

Drei Putzstellen bessern die Rente auf

Dann legt sich ein Schatten über ihr Gesicht. "Klar, manchmal mache ich mir schon Sorgen, wie es weitergeht", wendet sie nachdenklich ein. Krankheitsbedingte Ausfälle kann sich die 74-Jährige nicht leisten. Schließlich arbeitet sie seit einigen Jahren auf drei verschiedenen Putzstellen. "Anfangs habe ich mich gegen das Putzen gesträubt", erinnert sie sich zurück. Doch ihre Rente reicht ihr nicht zum Leben. Mit den 760 Euro, die ihr jeden Monat zur Verfügung stehen, gilt sie in Deutschland als arm. Nach Abzug der Miete und den laufenden Ausgaben bleiben ihr 200 Euro übrig. "Davon können Sie sich gerade einmal Lebensmittel leisten." Aber sie esse schließlich kein Fleisch und viele Kartoffeln – "da habe ich ein System entwickelt, um Kosten zu sparen", sagt sie und lacht. Und wenn größere Ausgaben anstehen, schränke sie sich eben ein.

Die 74-Jährige ist alleinerziehende Mutter einer behinderten Tochter. Diese wohnt inzwischen allein und arbeitet in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Doch nachdem ihre Tochter bei der Geburt einen Sauerstoffmangel erlitten hatte, blieb die damals 30-jährige Industriekauffrau 13 Jahre lang zuhause, um sich um ihr Kind zu kümmern. Im Alter von 40 Jahren folgte die Scheidung vom damaligen Ehemann und Kindsvater. "Mein Mann hat die Behinderung einfach nicht akzeptieren können", sagt die Seniorin heute. Als sich nach der Scheidung auch ihre Familie gegen sie stellte, kämpfte sie mit Existenzängsten. "Die innere Belastung kann man sich als Außenstehender nicht vorstellen."

Damals wie heute sei es ihre Tochter gewesen, die ihr neue Kraft und positive Energie geschenkt habe. Durch sie findet die gelernte Industriekauffrau zu ihrer Spiritualität, aus der sie bis heute Kraft schöpft. "Ich bin zur Ruhe gekommen", sagt die 74-Jährige und lächelt. Heute könne sie den Blick auf die positiven Seiten lenken, auf die vielen Türen, die sich immer wieder für sie geöffnet hätten. "Am Anfang ist es schwer zu sagen: Ich habe kein Geld. Weil es stimmt", stellt sie fest. "Heute habe ich mir das abtrainiert und da kommt mir so viel entgegen."

Sie lacht und gestikuliert viel, als sie von ihrem Weg zum positiven Denken erzählt, von ihrem ehrenamtlichen Engagement. Dabei blickt sie auf ein bewegtes Leben zurück. Immer wieder habe sie für einige Zeit bei verschiedenen Zeitarbeitsfirmen gearbeitet. Mit 50 Jahren gerät sie an einen cholerischen Chef, der sie ohne Vorwarnung entlässt. Sie strengt ein Verfahren gegen den Mann an und gewinnt. Dennoch sei es in dem Alter schwierig gewesen, eine neue Anstellung zu finden.

Schließlich macht sie sich mit Fußreflexzonenmassagen selbstständig. Als ihre Tochter auf eigenen Füßen steht, bricht sie ihre Zelte ab und zieht in den Schwarzwald. Mit 60 Jahren geht sie in den vorzeitigen Ruhestand, bei einem Rentenabzug von 13 Prozent.

"Ich habe sämtliche Versicherungen schon vor Jahren gestrichen", sagt sie. Mal hat sie ein Auto, mal keines. Einmal ist sie bei Schneegestöber auf dem Weg zu ihrer Tochter. Als die Scheibenwischer ausfallen, kommt sie kurzfristig bei einer Freundin unter, bis das Auto aus der Werkstatt kommt. "90 Euro hat das gekostet", erinnert sie sich, "das hatte ich gerade auf dem Konto."

Eine Zeit lang ist sie immer wieder in Calw, trifft sich dort mit Freunden. "Da konnte ich mir nicht einmal einen Kaffee leisten", berichtet die Seniorin. Ihre Kleidung kauft sie schon lange Second-Hand. "Ich gehe einfach immer so lange hin, bis ich das finde, was ich im Kopf hatte", lacht sie. Trotz ihrer Unbeschwertheit scheint immer wieder durch, dass sie auch mit Rückschlägen zu kämpfen hatte. Wie beispielsweise vor einem Jahr, als sie nicht dafür bezahlen konnte, das Grab ihrer verstorbenen Mutter abräumen zu lassen. Eine Freundin kommt schließlich dafür auf.

Immer wieder habe sie Ausgrenzung erfahren. Oder dass andere – meist Männer – ihre Lage ausnutzen wollten. "Ich will nicht erniedrigt werden, sondern verstanden", sagt sie bestimmt.

15 Euro mehr Rente im Monat durch Mütterrente

Und doch hat sie ihren Frieden damit geschlossen: "Wenn es die zwei Seiten nicht gäbe, würde mir die Altersarmut schon etwas ausmachen", sagt sie. Aber heute sehe sie vor allem die Hilfsbereitschaft und die positive Energie, die ihr immer wieder entgegengebracht wurde. Dass sie aus Rückschlägen gestärkt hervorgegangen ist. "Aber das muss man sich schon erarbeiten", sagt sie.

Von ihrem zusätzlich verdienten Einkommen unterhält sie ihr Auto. Darauf ist sie sichtlich stolz: "Das ist mein Verdienst. Da zieh ich vor mir selbst den Hut ab." Sie ist überzeugt: Mit positivem Denken, Achtsamkeit und Fleiß lässt es sich glücklich werden.

Seit diesem Jahr bekommt sie dank der erweiterten Mütterrente jeden Monat 15 Euro mehr. "Ich bin froh um jeden Euro", sagt sie nüchtern. Und doch: "Ich bin zufrieden, wie es heute ist." Dann schaut sie wieder gedankenverloren aus dem Fenster. "Wobei, einen Garten hätte ich schon gerne."

Weitere Informationen: Bernd Schlanderer, Geschäftsführer der Diakonie, referiert am Dienstag, 22. Januar, im Alten Feuerwehrgerätehaus in Wildberg zum Thema Armut und Altersarmut. Beginn ist um 19 Uhr, der Eintritt ist frei.

Armut ist ein vielschichtiges gesellschaftliches Phänomen. Deshalb greift beispielsweise die Bundesregierung auf ein ganzes Bündel an Indikatoren wie Einkommen, Gesundheit, Bildung oder Wohnen zurück, um es zu erforschen. Mit Blick auf die Einkommensarmut lässt sich aber eine Armutsrisikoschwelle ermitteln. Diese ist von Wissenschaftlern und Statistikern konstruiert und soll sich durch komplexe Berechnungen und Gewichtungen der Realität annähern. Gemäß EU-Vereinbarungen gelten Menschen als arm, denen weniger als 60 Prozent vom Durchschnittseinkommen der Bevölkerung zur Verfügung steht. Was heißt das konkret? Auf Anfrage verweist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf verschiedene Datenquellen, die leicht abweichende Zahlen ausweisen. Den aktuellsten Angaben des Mikrozensus von 2017 zufolge, galten Menschen bundesweit mit einem Einkommen von 999 Euro oder weniger als relativ einkommensarm. In Baden-Württemberg betrug die Armutsrisikoschwelle hingegen 1091 Euro.

Demnach waren bundesweit 15,8 Prozent der Menschen von Einkommensarmut bedroht. In Baden-Württemberg waren es nur 12,1 Prozent. Etwas mehr waren es im Regierungsbezirk Karlsruhe mit 13,8 Prozent.