Ein nicht zu übersehenes Schild macht die Tragweite der Sperrung bewusst. (Archiv-Foto) Foto: Buck

Am 17. April 2019 wird Bauwerk am Adlereck für einsturzgefährdet erklärt. Dreieinhalbwöchige Spaltung der Stadt.

Calw - Der 17. April 2019 wird vielen Calwern noch lange in Erinnerung bleiben. Es ist der Tag, an dem die rund 23 000 Einwohner zählende Stadt für mehrere Wochen in zwei Teile gespalten wird. Die stillgelegte Eisenbahnbrücke am Adlereck wird aus dem Nichts für einsturzgefährdet erklärt. Dieses Geschehen jährt sich nun zum ersten Mal.

Nicht mehr lange, dann hat Reinhard Gunzenhäuser, Leiter des städtischen Baubetriebshofs, an diesem Mittwoch im April 2019 Feierabend. Seinen Computer hat er schon heruntergefahren. Doch dann klingelt das Telefon, es ist Stadtbrandmeister Dirk Patzelt: Gunzenhäuser soll sofort ins Rathaus kommen. Eine Brücke droht einzustürzen.

Im April 2019 hat Schwarzwaelder-bote.de über den Vorfall berichtet:

Ganz ähnlich ergeht es kurz zuvor Eric Weber, persönlicher Referent des Oberbürgermeisters. Nur dass er der Erste ist, der direkt von einem Vertreter der Deutschen Bahn (DB) die Hiobsbotschaft erhält: Ein Gutachten habe ergeben, dass die seit 1981 stillgelegte Eisenbahnbrücke, die mittig zwischen der historischen "Fischbauchbrücke" und den Schienen der Kulturbahn liegt, akut einsturzgefährdet ist. Die Stadt muss sofort handeln. Es besteht akute Lebensgefahr. Denn, wie Constantin Brümmer, seines Zeichens Leiter des Regionalnetzes bei der DB, in einer Pressekonferenz am darauffolgenden Tag einräumt: Die Brücke hätte jeden Moment in die Tiefe stürzen können.

Entsprechend schnell ist eine Reaktion seitens der Stadt gefordert. Nur – was tun in so einer außergewöhnlichen Situation? Weber lässt alles stehen und liegen, um dem damaligen Oberbürgermeister Ralf Eggert Bescheid zu sagen. Der denkt zunächst an einen Scherz. Dann richtet er einen Krisenstab mit Vertretern der Feuerwehr, der Polizei, des Landratsamts, des Baubetriebshofs, der Straßenverkehrsbehörde sowie der DB ein. Die Straße unterhalb der Brücke, die Bundesstraße 296, muss gesperrt werden. Nicht nur für motorisierte Fahrzeuge, sondern auch für Fahrräder und Fußgänger.

Man kann sich vorstellen, wie der Feierabend bei den Mitarbeitern von Straßenmeisterei und Baubetriebshof an diesem Tage aussieht. Oder vielmehr: wie er nicht aussieht. Es wird vereinbart, "dass der Baubetriebshof den direkten Bereich an der Brücke absperrt und die Straßenmeisterei die überörtlichen Umleitungen und die Sperrungen der Bundesstraßen macht", erinnert sich Gunzenhäuser an jenen Abend. Also: Teams zusammenstellen, Wagen beladen, Einsatz vorbereiten. "Zunächst ließ man mit einem mulmigen Gefühl den Berufsverkehr noch bis 19.30 Uhr abfließen", sagt Gunzenhäuser. Anschließend begannen er und seine Mitarbeiter mit der Sperrung. Kurz vor 21 Uhr ist das soweit erledigt. Sogar zwei "Sicherheitsmänner" werden engagiert, um Passanten zu informieren, "die teils mit Unverständnis und Wut auf die Sperrung reagiert haben", bedauert er. Zwei junge Männer müssen gar am Übersteigen der Zäune gehindert werden. Danach geht es gleich weiter damit, Schilder zu drucken und Halteverbote auszuweisen. Gegen 23.30 Uhr können Gunzenhäuser & Co. schließlich den Heimweg antreten. "Mich hat beeindruckt, dass alle Beteiligten sehr zielstrebig waren und schnell zu Entscheidungen kamen", lobt Weber heute. Denn es wird auch, gemeinsam mit der Verkehrsgesellschaft Bäderkreis Calw (VGC), kurzerhand ein Shuttle-Verkehr eingerichtet, der Fußgänger von einer Seite der Stadt in die andere bringt. Es wird klar: Für die kommenden Wochen wird es Ost-Calw und West-Calw geben.

Tags darauf verbreitet sich die Nachricht der gesperrten Brücke wie ein Lauffeuer. Etliche Bürger pilgern zum "Tatort", um sich selbst von der schier unglaublichen Nachricht zu überzeugen. Was sie dort vorfinden, dürfte sie aber schnell von dem Gedanken an einen verspäteten Aprilscherz abbringen: Flatterbänder, Absperrgitter und ein Schild mit der Aufschrift "Lebensgefahr. Betreten verboten" sind dort nebst Hinweisen auf den Shuttle-Verkehr zu finden. Und natürlich Mitarbeiter der DB, die aber selbst nicht so genau zu wissen scheinen, was eigentlich Sache ist. So benennt einer der dort Anwesenden gar die falsche der drei Brücken als den "Übeltäter". Im weiteren Verlauf des Tages werden weitere Arbeiter mit der Aufgabe betraut, erste Sicherungsmaßnahmen vorzunehmen. Diese werden jedoch jäh beendet. Die Gefahr für die eigenen Arbeiter ist der DB zu groß.

Stützgerüst eingebaut

Unterdessen lädt die Stadt zu einer Pressekonferenz ein, bei der Brümmer von der DB zu den unzähligen Fragen, die zu dem Sachverhalt aufkommen, Stellung beziehen muss. Oberbürgermeister Eggert ist in dieser Runde, in der sogar der Südwestrundfunk anwesend ist, spürbar geladen. "Aus städtischer Sicht ist das eine Katastrophe", klagt er. Gott sei Dank blieb aber die ganz große Katastrophe namens Einsturz aus. Nicht nur Eggert, sondern auch die anwesenden Vertreter des Calwer Einzelhandels, sind an diesem Mittag nicht gut auf die Deutsche Bahn zu sprechen.

Denn eine Frage bleibt im Raum: Wieso lässt die Bahn eine seit 38 Jahren stillgelegte Brücke nutzlos in der Gegend stehen und sieht quasi seelenruhig bei deren Auflösungsprozess zu? So sei das alles gar nicht, beteuert Brümmer glaubhaft. Man prüfe die Brücken ja turnusgemäß alle paar Jahre. Das Calwer Stadtoberhaupt entgegnet trocken, dass die Stadt ihre Verkehrsbrücken jährlich unter die Lupe nehme. Die von den anwesenden Journalisten abgefeuerte Rückfrage, weshalb das denn die Bahn nicht mache, konnte Brümmer nicht wirklich beantworten. Nur so viel zur aktuellen Lage: "Das Hauptproblem sind die Spannstäbe, die die Brücke sichern. Sie weisen Risse auf", erklärt Brümmer. Und da diese unter dem Betonmantel liegen, sind sie nicht einfach einzusehen, aufwendige Untersuchungen waren im Vorfeld nötig. Deshalb hat das Gutachten auch sechs Monate gedauert. "Die Tinte des Gutachtens ist noch druckfrisch. Wir mussten sofort handeln."

Genauere Nachforschungen des Schwarzwälder Boten in den folgenden Tagen zeigen das ganze Ausmaß des Brückenzustands. Die DB gibt die Befunde der Brücken-Untersuchung vom Oktober 2018 heraus. Note 3, hätte diese ergeben, teilt eine Sprecherin mit. Was gut klingt, ist in der Branche der Bauwerksprüfer alarmierend. Denn die Notenskala endet bei der Note 4. "Bei Note 3 oder schlechter besteht Handlungsbedarf, da muss was getan werden", sagt damals auch Klaus Butzke vom Verkehrsministerium des Landes, Experte für Brückenprüfungen. Getan hat die Bahn etwas – und zwar die Proben der Brücke an die Stuttgarter Uni geschickt. Mit bekanntem Ergebnis: der vollständigen Sperrung für dreieinhalb Wochen. So lange, bis eine Stützkonstruktion eingebaut ist

Diese stellt auch für die Calwer Wirtschaft – gerade kurz vor Ostern – der Ostersonntag fiel 2019 auf den 21. April – eine Katastrophe dar. Schließlich müssen die Kunden mitunter riesige Umwege in Kauf nehmen, um zu den Geschäften zu gelangen. Da ist die Gefahr natürlich groß, dass die Kundschaft zu anderen, nähergelegenen Läden, abwandert. Damit ist 2020 das zweite Jahr in Folge, in dem das Ostergeschäft für Calwer Betriebe baden geht – erst Brücke, dann Virus.

Nicht nur das schlechte Ostergeschäft 2020 erinnert verdächtig an das Vorjahr. Auch an der Adlereck-Brücke selbst hat sich seither nicht viel getan. Gewiss – in der Zeit, in der die Bundesstraße gesperrt war, wurde jene riesenhafte Stützkonstruktion aus Stahl an die marode Brücke gebaut. Diese werde auch monatlich überprüft, betont ein Pressesprecher der Deutschen Bahn, sodass keine Einsturzgefahr mehr bestehe.

Doch von den weiterführenden Plänen der Bahn, die Brücke abzureißen, ist nichts zu sehen. Und auch nichts zu hören. Regelmäßig fragt der Schwarzwälder Bote bei der Pressestelle des Konzerns an, um nach dem Stand der Dinge zu fragen. Die Antwort ist immer dieselbe: Es gibt nichts Neues, es gibt keinen Zeitplan. "Die Planungen gestalten sich aufgrund der Örtlichkeit als relativ schwierig", sagt ein Bahnsprecher am Vortag des ersten Jahrestags.

Die einzige Überraschung erfolgt im November 2019, als die DB in einem Nebensatz verlauten lässt, dass sie nicht nur einen Abriss des bestehenden Bauwerks plant, sondern auch einen Neubau an derselben Stelle. Dies sei nötig, weil man beispielsweise für Instandhaltungsarbeiten an der sich immer noch in Betrieb befindlichen Brücke nebenan einen Randweg benötige. Überraschend deshalb, weil das Wort "Neubau" zuvor noch nie gefallen war – auch nicht gegenüber der Stadtverwaltung, wie diese im November 2019 bestätigt.

Nun steht das inzwischen seit 39 Jahren stillgelegte Bauwerk also da, umrahmt von einer teils rostbraunen Stützkonstruktion. Hin und wieder ertappt man sich beim darunter Hindurchfahren beim bangen Blick nach oben. Und jedes Mal wird man an den Tag vor einem Jahr erinnert, der in Calw nicht in Vergessenheit geraten wird. Gunzenhäuser ist auch ein Jahr später überzeugt davon, dass die Entscheidungsträger damals richtig gehandelt haben, auch wenn es nicht für Jeden nachvollziehbar sein möge. Niemand habe es sich leicht gemacht. Doch: "Jedes Zögern wäre im Falle eines Unglücks unverzeihlich gewesen."