Andreas Reichstein (von links) von der Erlacher Höhe, Barbara Ogbone, Flüchtlingsbeauftragte der Gemeinde Althengstett, Bettina Schöttmer vom Arbeitskreis Asyl Gechingen sowie die SPD-Bundestagsabgeordnete Saskia Esken. Foto: Kunert Foto: Schwarzwälder Bote

Flüchtlinge: Unendlich viele bürokratische Hürden beim Familiennachzug / "Sand im Getriebe" bei Abstimmung mit den Botschaften

Es ist eines der großen Streitthemen der Koalitionsverhandlungen in Berlin: der Familiennachzug, vor allem von Flüchtlingen mit subsidiärem Schutzstatus. Grund genug für die SPD-Bundestagsabgeordnete Saskia Esken, für die Region konkrete Beispiele zu nennen.

Kreis Calw. Denn das Thema sei eigentlich "ein bisschen gefährlich", findet Esken. Weil es sehr von anderen, eigentlich fürs Land viel wichtigeren Themen ablenke. "Da ist viel Emotion drin" in der Diskussion um den Familiennachzug, auch in ihrer Partei, sagt sie – wie der jüngste Parteitag gezeigt hätte. Weshalb Esken zwei hiesige Praktikerinnen zum Pressegespräch einlud: Barbara Ogbone, Flüchtlingsbeauftragte der Gemeinde Althengstett, und Bettina Schöttmer vom Arbeitskreis Asyl Gechingen. Vierter im Bunde: Andreas Reichstein von der Erlacher Höhe.

Zum Teil krasse Schicksale

Das Problem Familiennachzug sei eigentlich ein "sehr überschaubares" Problem. "Da sind viele ›Mondzahlen‹ im Umlauf, die die Flüchtlingszahlen von einer Million mit je fünf Familienmitglieder hochrechnen und dann auf eine Zahl von fünf Millionen kommen, die nach Deutschland wollten." Alles Humbug: seriöse Hochrechnungen sprechen von maximal 60 000 Menschen, die aktuell bei einem Familiennachzug nach Deutschland kommen dürften. Beleg: das Beispiel Althengstett, wie Barbara Ogbone vorrechnet. Von dauerhaft rund 100 Flüchtlingen im Ort betrifft der Familiennachzug dort nur sieben Fälle; davon wären vier Syrer, von denen wiederum zwei als Flüchtlinge anerkannt wurden – von denen es allerdings nur einem wirklich gelang, seine Familie auch nachzuholen.

Was hier so lapidar klingt: Hinter jedem dieser Fälle stehen zum Teil krasse Schicksale. Vor allem auch, weil die Anerkennung, die eigene Familien nachzuholen, für die Betroffenen eine zum Teil kafkaeske Erfahrung mit den für den Familiennachzug zuständigen (deutschen) Behörden bedeutet. Erste Hürde: einen Termin bei einer deutschen Botschaft zu bekommen, um dort den Status für den Familiennachzug bestätigen zu lassen. Da es in Syrien zum Beispiel keine deutsche Botschaft mehr gibt, müssen die Betroffenen in den Libanon oder nach Jordanien reisen, um bei Botschaften vorstellig zu werden – mit allen ins Deutsche übersetzten und legalisierten, also amtlich beglaubigten, Unterlagen wie Geburts- oder Heiratsurkunden.

Was in der Praxis bedeutet: Passierscheine, Grenzübertritte, auch Schmiergelder; die Gefahr, von kriminellen "Helfern", die beim Kontakt zur Botschaft assistieren wollen, ausgenommen zu werden. Keine Horrorgeschichten, erlebter Alltag – auch für Bettina Schöttmer, die aktuell zwei besonders krasse Fälle betreut: Zwei Syrer, die zwar formal ihre Ehefrauen nachholen dürften, wo aber in der Abstimmung mit den Botschaften vor Ort ordentlich "Sand im Getriebe" ist: Unterlagen gehen verloren, werden monatelang nicht bearbeitet. Erst als Schöttmer von Deutschland aus einen Anwalt einschaltet, geht zumindest die Bearbeitung mal voran – die in der Regel sowieso schon mindestens ein halbes Jahr dauert.

Was die Situation aus hiesiger Sicht eigentlich unbegreiflich macht: Einer der Syrer ist Facharzt; während einer Hospitanz an der Uniklinik Tübingen bescheinigten die dortigen Chefärzte ihm eine exzellente fachliche Expertise. Der zweite Syrer ist Sportpädagoge. Die Ehefrauen der beiden sind Krankenschwester und PTA (Pharmazeutisch-Technische Assistentin) – alles Berufe, die hier bei uns extrem gefragt sind. Aber die Anerkennung der syrischen Berufsausbildungen – noch so ein Thema, eine offene Flanke: Obwohl die Qualifikationen unzweifelhaft sind, kommt die amtliche Bestätigung durch deutsche Behörden durch immer neue Auflagen einfach nicht zustande.

Nachweisbar mäßigender Einfluss

Weshalb Esken von einem "auch bürokratischen Widerstand" deutscher Stellen spricht. "Die wollen gar keine Integration", behindern die Verfahren, wo es nur geht. Was ein "Spiel mit dem Feuer" sei, ein bisschen "Biedermann und die Brandstifter", weil gerade die Familien einen nachweisbar mäßigenden Einfluss auf (männliche) Flüchtlinge hätten. Dabei gebe es nicht nur einen "christlich-humanitären", sondern auch einen grundgesetzlichen Auftrag zur Hilfe und Asyl für Flüchtlinge. Was sich "nicht nur die Vertreter des CSU", die ja immerhin das "C" für "Christlich" im Parteinamen führten, wieder etwas stärker bewusst machen sollten, so eine ordentlich wütende Esken. Zumal der deutsche Arbeitsmarkt auf solche Fachkräfte ja händeringend warte.

Was aus dem Gespräch mit Ogbone, Schöttmer und Reichstein aber auch deutlich wird: Es gibt (syrische) Flüchtlinge und deren Angehörige, bei denen auch die syrische Seite ein Interesse hat, diese nicht gehen zu lassen. Wie das Beispiel des syrischen Arztes: Dort wurde "ein hochrangiger syrischer General" bei der Ehefrau vorstellig, um diese zu einer Ehe mit sich zu zwingen. Was natürlich den Ehemann hier "halb wahnsinnig" mache. Aktuell seien die beiden Ehefrauen der in Gechingen lebenden Syrer in Amman/Jordanien; eigentlich illegal, aber halbwegs in Sicherheit. Um dort auf den Entscheid der deutschen Botschaft und das Visum zu warten. Bis wann der vorliegt? Ungewiss.

(ahk). Union und SPD haben in den aktuellen Koalitionsverhandlungen festgelegt, dass der Familiennachzug von Flüchtlingen (mit subsidiären Schutzstatus) bis zum 31. Juli dieses Jahres ausgesetzt bleibt, anschließend soll der Familiennachzug (aller Berechtigten, also nicht nur der mit subsidiären Schutzstatus, sondern auch von "normalen" Flüchtlingen nach der Genfer Flüchtlingskonvention) auf 1000 Menschen pro Monat begrenzt werden, ergänzt um eine bereits bestehende Härtefallregelung. Die Zahl "1000" komme zustande, so Saskia Esken, weil die hiesigen Behörden personell und organisatorisch gar nicht in der Lage seien, mehr Fälle beziehungsweise Anträge auf Familiennachzug im Monat zu bearbeiten.