Angela Merkel (Mitte) umringt von Kamerateams und Schaulustigen am Mittwochabend in Calw. Foto: Fritsch

Bundeskanzlerin beendet Wahlkampftag im Südwesten auf dem Calwer Marktplatz weitgehend staatsmännisch. Mit Kommentar.

Calw - Die Calwer Kirchturm-Uhr schlägt 7 Uhr (abends). Manche der knapp 3000 Besucher auf dem Marktplatz recken »Angie«-Plakate empor. Es tut sich zunächst nichts. Dann bahnt sich um 19.06 eine Frau im roten Blazer den Weg durch die Menge auf die sieben mal vier Quadratmeter große Bühne.

Beim Blick auf den proppenvollen Platz spricht der Moderator von einem wundervollen Anblick. Bevor er aber Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) begrüßt, stellt er zwei weitere Hauptakteure vor: den CDU-Landesvorsitzenden Thomas Strobl und vor allem den Kandidaten für die Bundestagswahl am 22. September des Wahlkreises Calw/Freudenstadt, Hans-Joachim Fuchtel. Schließlich ist ja Wahlkampf.

Angela Merkel hat an diesem Tag in diesem Zusammenhang einiges zu leisten. Das sieht man ihr allerdings nicht an. Gestern reist sie bei ihrem persönlichen Wahlkampf, bei dem sie bundesweit 60 Termine zu absolvieren hat, quer durch den Südwesten. Zum Auftakt sucht sie die Fahrradmesse Eurobike in Friedrichshafen am Bodensee auf, die an diesem Tag eröffnet wird. Von dort geht die Reise weiter nach Ulm, wo Merkel ihre Vertraute Annette Schavan unterstützt, die erneut in den Bundestag einziehen will. Schavan hat bekanntlich im Februar das Amt als Bundesbildungsministerin niedergelegt, als ihr Plagiate in ihrer Doktorarbeit vorgehalten worden sind.

In der Syrien-Frage will Merkel schließlich eine Lagebewertung der Staatengemeinschaft abwarten. »Ich darf Ihnen sagen, dass die Bundesregierung, der Bundesaußenminister und ich ganz besonders daran arbeitet, im Kontakt mit unseren Partnern, eine gemeinsame Bewertung, dessen was geschehen ist, zu erreichen«, sagte die Kanzlerin in Ulm. Deutschland werde vor allen Dingen versuchen, den Menschen im Bürgerkrieg zu helfen. Die Kanzlerin sprach von »sehr, sehr ernsten Zeiten«. Sie verwies gleichzeitig auf den europäischen Frieden seit 60 Jahren. »Wir müssen alles tun, um unseren Frieden und unsere Werte, die Freiheit und Demokratie zu erhalten.«

Den Schlusspunkt im Südwesten setzt die Kanzlerin mit ihrem Auftritt auf dem Calwer Marktplatz. Dort wird sie natürlich von Hans-Joachim Fuchtel begleitet, der seinen Wahlkreis verteidigen will. Dieser weiß, was in Calw immer ankommt: »Unsere Bundeskanzlerin wandelt heute Abend auf den Spuren von Hermann Hesse«, sagt er zur Begrüßung. Dass einen Steinwurf von der Bühne entfernt des Literatur-Nobelpreisträgers Geburtshaus liegt, weiß Merkel übrigens nicht. »Wie lange hat er hier eigentlich gelebt?«, fragt sie nur.

»›Fuchtelos‹ leistet in Griechenland eine tolle Arbeit, und er hat auch diesen Abend wieder toll organisiert«

Aber sie bekennt, dass sie nicht zuletzt wegen des Parlamentarischen Staatssekretärs, der unter anderem für die Koordinierung der Griechenlandhilfe zuständig ist, nach Calw gekommen ist. »›Fuchtelos‹ leistet in Griechenland eine tolle Arbeit, und er hat auch diesen Abend wieder toll organisiert«, sagt sie.

Dieser wirbt im Wahlkampf für sich selbst als »unser« – also des Wahlkreises Calw/Freudenstadt – Gewicht in Berlin. Das interessiert aber gestern Abend fast niemanden. Schließlich kommt es nicht jeden Tag vor, dass eine leibhaftige Bundeskanzlerin den Schwarzwald oder gar Calw besucht. Genau genommen ist es sogar das allererste Mal, dass sich ein bundesdeutscher Regierungschef in der Hesse-Stadt die Ehre gibt. An einem Eintrag in das Goldene Buch Calws kommt Merkel deswegen nicht herum.

Endlich am Rednerpult angekommen, startet die Kanzlerin ihre Charmeoffensive. Auch wenn am Rande Trillerpfeifen und »Lügenpack«-Rufe stören. Die ignoriert sie . Merkel gibt sich ganz staatsmännisch. Fast kein Seitenhieb oder gar eine Attacke auf den politischen Gegner. Am 22. September, so sagt sie, gehe es darum, dass ihre Arbeit für die Zukunft der Bundesrepublik gestaltend fortgesetzt werden könne. Die Politik, fährt sie fort, kann dabei nur den Rahmen gestalten.

Natürlich stichelt sie etwas gegen SPD und Grüne: gegen Steuererhöhungen, gegen Neid-Diskussionen, gegen politisch festgelegte Mindestlöhne, gegen den Veggie Day. Aber das alles klingt irgendwie sehr moderat.

Das Thema Euro und Europa darf nicht fehlen. Und dass sie von einer Vergemeinschaftung der Schulden überhaupt nichts hält. Deutschland braucht Freunde sagt sie. Es ist zwar mit 80 Millionen Einwohnern ein durchaus großes Land. Angesichts der Tatsache, dass auf der Welt 7,2 Milliarden Menschen leben, sind das, und diese Rechnung fällt auch ihr nicht schwer, nach Adam Riese gerade einmal etwas mehr als ein Prozent. Nach Merkels Überzeugung bedeutet Europa für die Menschen in diesem Land ein Stück Heimat. Europa ist zwar nach ihren Erfahrungen mit seinen 28 Regierungen und vielen Beratungen manchmal kompliziert. Aber man muss wenigstens nicht darüber streiten, dass man in freiheitlichen Demokratien lebt, sagt sie. Andererseits, so die Kanzlerin in Calw, muss jeder im eigenen Land die Hausaufgaben machen. Solidarität ist das eine, Eigenverantwortung das andere.

Merkel spult keine 08/15-Rede ab. Sie erzählt von ihrer Vorstellung von Deutschland. Ihre Hauptbotschaft: Es geht doch eigentlich ganz gut. Die Arbeitslosigkeit ist niedriger als anderswo in Europa, die Schulden maßvoller, jeder bekommt die Möglichkeit, sich nach seinen Fähigkeiten zu entfalten. Und so soll das auch bleiben. Und mit wem bleibt alles so, wie es ist? Na klar, mit ihr, Angela Merkel.

So ist es momentan auf den Marktplätzen dieser Republik: Der Wahlkampf der Kanzlerin scheint ein Selbstläufer zu sein. Schon etwas Balsam für die eigenen Leute und ein Päckchen Munition für den politischen Wettstreit. Doch keine gewaltigen Gesten, keine dröhnenden Parolen. Wie will die Opposition das noch drehen in den wenigen Wochen bis zum 22. September? Die Kanzlerin jedenfalls scheint ganz bei sich zu sein. Ob nun in Seligenstadt, Wernigerode, Wiesbaden oder eben Hesses Calw.

Die Nordschwarzwälder wären schlechte Gastgeber, wenn sie einem so prominenten Gast zum Abschluss nicht noch ein Geschenk machten. Annemarie Lindner, die über 90 Jahre alte Seniorchefin eines Naturkosmetik-Herstellers, überreicht Angela Merkel Produkte aus ihrem Haus. Auf dass der Bundeskanzlerin die Strapazen auch beim Rest ihres Wahlkampfes nicht anzusehen sind. 

Kommentar: Hotel Mama

Von Hans-Peter Schreijäg
Es läuft – bislang! – nach Wunsch für die Kanzlerin. In den Umfragen fällt Rot-Grün weiter hinter das Regierungslager zurück. Auf den Marktplätzen sammelt Angela Merkel, ganz Staatsfrau, Sympathiepunkte. Dazu muss sie noch nicht einmal rhetorische Feuer entzünden. Den Deutschen scheint der Sinn derzeit mehr nach Hotel Mama zu stehen.

So die Eindrücke auch gestern bei einer Art Baden-Württemberg-Tag der Kanzlerin. Abends in der Hesse-Stadt Calw, mittags vor dem Ulmer Münster, zuvor bei der Radlernation am Bodensee: Wahlkampf der samtenen Art. Was soll die Kanzlerin noch aus der Ruhe bringen? Nicht dass es keine sperrigen Themen gäbe: Euro, NSA, Syrien. Den Wahlkampf lässt das seltsam unberührt. Denn lügen die aktuellen Zahlen nicht, wird es schwierig für Peer Steinbrück, das Ruder herumzureißen. Das TV-Duell am Sonntag könnte schon die letzte Chance sein.